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Das Tabu Schulstruktur ist gebrochen

Aber nur ein bisschen. Nach Pisa 2003 kann auch die Kultusministerkonferenz nicht umhin, sich mit den Negativeffekten der gegliederten Schule auseinander zu setzen. Pisa-Forscher sehen eindeutige Zusammenhänge mit sozialer Ungerechtigkeit und verwahrloster Unterrichtskultur

VON CHRISTIAN FÜLLER

Die gute Nachricht zuerst: Die Studierenden setzen sich wieder für soziale Gerechtigkeit im ganzen Bildungssystem ein. Als die Kultusminister am Montagabend die Ergebnisse der zweiten Pisa-Studie in Berlin feierten, wagte sich auch Jens Wernicke in die Höhle der Löwen. Er sei „ganz klar“ gegen soziale Selektion in der dreigliedrigen Schule, sagte der Student aus Weimar, und befürworte daher eine „Schule für alle“. In den vergangenen Jahren hatten Studentenfunktionäre soziale Gerechtigkeit stets mit der Abwesenheit von Studiengebühren definiert. Jetzt haben sie die Schule wiederentdeckt. Studierende sind lernfähig.

Die andere Nachricht von der Sondersitzung der Konferenz der Kultusminister (KMK) lautet: Die KMK ist nur bedingt lernfähig. Trotz der Drohung der Studierenden mit Knecht-Ruprecht-Ruten glauben noch nicht alle 16 Schulminister Deutschlands vollständig an das Heil der „Schule für alle“, die früher Gesamtschule hieß, heute eher als Verbunds- oder Gemeinschaftsschule daherkommt.

Immerhin, „wir wollen keine Tabus“, sagte die Präsidentin der KMK, Doris Ahnen, SPD (ob sie keine Tabus mehr sagte, war in dem anschwellenden Geraune im Bundesrat nicht auszumachen). Und berichtete, dass die Kultusminister tatsächlich über das geredet haben, was seit der Veröffentlichung von Pisa 2000 nie Thema hatte sein dürfen: Die „Schule für alle“, die Schüler nicht bereits mit zehn Jahren in Hauptschule, Realschule, Gymnasium und weitere Subspezies teilt. Es soll sogar „ein richtig gutes Gespräch“ gewesen sein. Sagte Ahnen – und dann wurde weiter um das Tabu gerangelt.

Die versammelten Journalisten, nach mehreren Pisa-Veröffentlichungen scheinbar vertraut mit Korrelationsanalysen und Regressionsverfahren, fahndeten unnachgiebig nach einem zwingenden Beweis für die Gemeinschaftsschule im Text des neuen Mister Pisa, des Kieler Wissenschaftlers Manfred Prenzel. Die Suche nach dem smoking gun hat vermutlich eine Funktion: Prenzel oder einer der anderen Pisa-Halbgötter könne der Gesellschaft womöglich die politische Entscheidung für eine gerechte Schule abnehmen.

Doch das Gesetz, das der Zentralrechner des Leibniz-Instituts in Kiel (bei dem Prenzel arbeitet) aufgrund einer statistischen Auffälligkeit ausfertigt statt die Länderparlamente durch Mehrheitsbeschluss, dieses Gesetz gibt es nicht. Prenzel verhielt sich wie ein schwer zu deutendes Orakel. Er lächelte Bayerns Kultusministerin Monika Hohlmeier (CSU) an, er war freundlich zu Doris Ahnen (SPD), ja, er ließ sich nicht einmal aus der Ruhe bringen, als ihn der KMK-Generalsekretär barsch zur Eile mahnte. Prenzel ist sehr lernfähig.

Andreas Schleicher sowieso. Das Wunderkind der Schulanalyse aus der Pariser Wissenschaftlertruppe der Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) weiß: Die deutschen Kultusminister brauchen Prenzels Zuckerbrot – und seine, Schleichers, Peitsche, sonst bewegen sie sich keinen Millimeter, niemals.

Schleicher sagte, ebenfalls lächelnd, Deutschland habe sich bei Pisa 2003 verbessert, „bleibt aber in seiner Gesamtleistung weit unter seinem Erwartungswert“. Es sei Deutschland von Pisa 2000 zu Pisa 2003 gelungen, „die besseren Schüler noch besser zu machen“. Im unteren Leistungsbereich allerdings habe sich nichts getan – ganz im Gegensatz etwa zu Polen, dessen kometenhafter Aufstieg dadurch zu begründen sei, „dass es die leistungsschwächsten Schüler sehr gut fördert“. Anders Deutschlands Schulen. Sie „lassen das Leistungspotenzial eines großen Schüleranteils ungenutzt“ – und dafür sei wesentlich das deutsche Schulsystem verantwortlich zu machen.

Das ist der springende Punkt. Manfred Prenzel hielt sich zurück, aus seinen nationalen Pisa-Berechnungen Rückschlüsse auf die Schulstruktur zu ziehen, also das Nebeneinander vieler verschiedener Schulformen ab dem 10. Lebensjahr. Die Kultusminister zitierten in beinahe jeder Mitteilung den Satz seiner Studie, wonach „kein Zusammenhang zwischen dem Differenzierungsgrad des Schulsystems bzw. dem Alter der Differenzierung und dem Kompetenzniveau“ bestehe.

Andreas Schleicher ist da ganz anders. Für ihn ist die dreigliedrige Schule schlicht nicht entwicklungsfähig. „Keines der erfolgreichen Bildungssysteme der Welt“, so Schleicher, „arbeitet mit selektiven und institutionellen Differenzierungen.“ Das ist allerdings, das macht auch der 41-jährige Forscher deutlich, eine These. Denn ein zwingender Zusammenhang zwischen empirischen Ergebnissen und einem bestimmten Schulmodell sei grundsätzlich nicht machbar. Allerdings: Die Berechnungen Schleichers machen seine These plausibel. Sehr plausibel.

Der Pisa-Chef aus Paris kann zeigen, dass es eine Vielzahl von Schulsystemen gibt, die hohe Spitzenleistungen erbringen und gleichzeitig ein Höchstmaß an Gleichheit erzielen. Betrachtet man sich diese Staaten – Finnland gehört dazu, Kanada, Korea, Hongkong und andere – so findet sich nur ein einziger, der mit einer institutionellen Differenzierung arbeitet: Österreich. Österreich freilich schafft jeweils nur hauchdünn die Mittelwerte der Kategorien Qualität und Gleichheit.

Die extremen Unterschiede zwischen den Schülerleistungen hängen weitgehend an den Leistungsdifferenzen zwischen den Schulen. Die Verteilung der Schülerschaft aber schafft so genannte differenzielle Lernmilieus – das heißt: Die sozial speziell sortierten Schulen verstärken noch einmal die Effekte der Herkunft des einzelnen Schülers. Eine Art Teufelskreis der Elitenbildung, der nur entsteht, wenn man die Schülerschaft nach Leistungen trennt – der wiederum verstärkt wird, je früher die Trennung erfolgt. „Derartige Schulsysteme“, so Schleichers Resümee, „haben die Intention, Schüler nach Leistung zuzuordnen – in Wahrheit aber sortieren sie nach sozialer Herkunft.“

Schleichers Thesen ärgern die Kultusminister. So sehr, dass sie mit ihm nicht mal mehr an einem Tisch sitzen wollen. Der Moderator der OECD-Vorstellung, Heino von Meyer, sah sich daher genötigt, Schleicher in Schutz zu nehmen. Der trage nicht persönliche Ansichten vor, sondern die Berechnungen der OECD. Pisa, so von Meyer, „ist inzwischen die Chiffre für den deutschen Reformbedarf“. Er hätte auch sagen können: Für den Reformunwillen.

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