: Hilflose Leitkultur
Ohne die 2,5 Millionen Türken in Deutschland müsste die CDU der Türkei offener gegenüberstehen. Das Integrationsproblem hilft ihr, einen EU-Beitritt abzulehnen
Die Christdemokraten haben die Frage des türkischen Beitritts zur Europäischen Union zur deutschen Schicksalsfrage erklärt. Gerügt werden alle Personen und Kräfte, die sich für eine EU-Perspektive der Türkei einsetzen. Egal ob es sich dabei um Ex-Erweiterungskommissar Verheugen oder die deutschen Unternehmerverbände handelt.
Es wird sogar in Frage gestellt, ob die Union im Falle einer Regierungsübernahme 2006, die bis dato gegenüber der Türkei eingegangenen Verpflichtungen einhalten wird. Es wird offen spekuliert, ob eine unionsgeführte Bundesregierung Beitrittsgespräche blockieren könnte. Ein solcher Schritt wäre allerdings ein schwerwiegender Bruch mit der bundesrepublikanischen Tradition von Kontinuität in der Außenpolitik.
Einst war die CDU die deutsche Europapartei schlechthin. Unbestritten sind die Verdienste der Kanzler Adenauer und Kohl in Bezug auf den europäischen Einigungsprozess und die Integration Deutschlands in die demokratische politische Kultur des Westens nach dem Zweiten Weltkrieg. Gerade von dieser Partei hätte man erwarten müssen, dass sie in der Türkeipolitik konstruktive Akzente setzt und die Westintegration der Türkei mitträgt, so wie sie es in der Vergangenheit immer getan hat.
Gäbe es nicht die zweieinhalb Millionen Türken in Deutschland, wäre die Position der konservativen Kräfte in Deutschland womöglich ganz anders. Nicht kulturelle, sondern sicherheits- und wirtschaftspolitische Interessen stünden dann im Mittelpunkt. Die Integrationsfrage der Türken in Deutschland aber vernebelt den Blick. Sie wird als eine die nationale Identität betreffende, kulturpolitische Frage angesehen. Es wird wohl vermutet, dass eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU den Integrationsdruck auf die Türken in Deutschland abbauen und die deutsche „Leitkultur“ weiter schwächen wird. Dabei wird übersehen, wie tief bereits jetzt die Gräben in der fragmentierten deutschen Gesellschaft sind. Mit der gegenwärtigen, die Türkei offensichtlich ausgrenzenden Argumentation werden sie aber auf keinen Fall geschlossen.
Im Gegenteil: Das Pro und Contra in der Beitrittsdiskussion, als Antwort auf eine emotional aufgeladene kulturelle Frage, wird zu einem Entweder-oder, das die Gesellschaft tief spaltet. Für die Türken ist ihre Aufnahme in die EU inzwischen Ehrensache. Sie fordern Gleichbehandlung mit anderen Beitrittskandidaten und ernsthafte, positiv motivierte Gespräche, die ihnen jahrzehntelang zugesichert worden sind. Dafür sind sie durchaus bereit in vielen Sachfragen, wie Zuzugsregelungen und Subventionen, Verzicht zu üben.
Doch für eine Ausgrenzung aus dem europäischen Kulturkreis haben sie kein Verständnis. Sie kommt einer Negierung ihrer modernen Geschichte gleich, der Ausgliederung der türkischen Moderne aus dem europäischen Kontext. Seit wenigstens achtzig Jahren strebt die Türkei mit einem Modernisierungsprozess die Westintegration des Landes an, der das Gesicht der Türkei nachhaltig verändert hat. Wer diese Modernisierung in Frage stellt, kennt entweder – wie viele andere – ihre Auswirkungen auf Gesellschaft, Religion und Künste nicht, oder er lässt sich von Vorurteilen leiten.
Gerade durch die kulturalistische Argumentation ist die Frage der türkischen EU-Mitgliedschaft auch zu einer Frage der Anerkennung geworden. Mit Argumenten wie, die Türkei sei „ein islamisch geprägtes Land, das nicht in unseren Kulturkreis passt“, wird aber gegen jedes Integrationskonzept gearbeitet. Die nächste Frage kann dann nur lauten: Wie passen die Türken zu uns? Ein nicht zu unterschätzender Teil der deutschen Bevölkerung ist der Ansicht, dass sie in Deutschland nicht zu integrieren sind und für immer und ewig Fremde bleiben werden.
Die Türkeipolitik der Union braucht dringend eine Korrektur. Für die nächsten Bundstagswahlen haben DVU und NPD eine gemeinsame Strategie angekündigt. Eine populistische Politik mit fremdenfeindlichen Untertönen öffnet Demagogen vom rechten Rand Tür und Tor für ihre rassistischen Parolen. Die demokratische Verantwortung des konservativen Lagers ist gefragter denn je. Doch wenn es um Themen wie den „Islam“ und die „muslimischen Türken“ geht, tun sich deutsche Christdemokraten immer schwerer, eine in der Demokratiekultur der bürgerlichen Gesellschaft fest verankerte, liberale und weltoffene Position zu beziehen. Woher kommt das?
Eine zusammenwachsende Welt schwächt nationale Positionen, sorgt für Brüche in der Identität und für kulturelle Verschränkungen ungewöhnlicher Art. Mit der Multikulturalismusformel, die jegliche Kulturmelange abfeierte, wurde keine brauchbare Basis für die vielfältigen, oft widersprüchlichen kulturellen Verschränkungen unserer Zeit gefunden. Nur so erklären sich hilflose Versuche, eine Leitkultur zu definieren, oder der Versuch, Fragen vom Bezug des Eigenen zum Fremden statisch, das heißt eindeutig, beantworten zu wollen. Aberwitzig erscheint angesichts dieser Entwicklungen der Versuch, eine europäische Identität festschreiben zu wollen. Soll etwa der Ausgrenzungsmechanismus eines zumindest hierzulande diskreditierten Nationalgefühls auf Europa übertragen werden?
In vielerlei Hinsicht stellt der türkische Weg für vereinfachte Identitätsmodelle eine Provokation dar. Der Bosporus erweist sich als Scheidelinie zwischen den Kulturen als untauglich. Die vielen Gesichter der Türkei verunsichern unsere Wahrnehmung, konterkarieren jede Eindeutigkeit. Gerade in Deutschland scheint der Umgang mit dem Anderen in der Gestalt der muslimischen Kultur besondere Schwierigkeiten zu bereiten.
Ein muslimisches Land, das in die EU will und dafür bereit ist den Frauen gleichwertige Rechte einzuräumen, die sie vor zwanzig Jahren nicht einmal in Mitteleuropa hatten? Kann das gut gehen? Darf es das überhaupt geben?
Was passiert, wenn türkische Frauen sich für ihre Emanzipation auf allen gesellschaftlichen Ebenen einsetzen, wenn die klassischen Geschlechterrollen aufgegeben werden und immer mehr von ihnen berufstätig sind?
Nach der Wiedervereinigung hat der populistische Nationalismus hierzulande erfreulicherweise keine Chance gehabt. Damit dies in wirtschaftlich unsicheren Zeiten auch so bleibt, müsste eine Politik der offenen Gesprächskultur gepflegt werden, die sich nicht in einer kulturalistisch motivierten Ansprache erschöpft. Die Unionsparteien müssten mehr ins Gespräch kommen mit den Menschen aus der Türkei, die hier in Deutschland leben. Mehr als siebenhunderttausend Türken sind inzwischen deutsche Staatsbürger. Obwohl viele von ihnen eher konservativ geprägt sind, ist die CDU für den türkischstämmigen Wähler in Deutschland nicht mehr als eine Splitterpartei. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass sich in den Reihen der Union weder in den Landtagen noch im Bundestag ein Abgeordneter türkischer Herkunft finden lässt.
ZAFER ȘENOCAK