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Archiv-Artikel

Ärztekammer befürchtet Pleite

Nach dem neuen Arzneimittelgesetz sind Ethikkommissionen bei Medikamententests künftig auch gegenüber der Pharmaindustrie schadensersatzpflichtig. Die Berliner Ärztekammer wehrt sich dagegen, diese neue Aufgabe zu übernehmen

Haften muss die Kommission auch für Schäden bei Probanden

VON KLAUS-PETER GÖRLITZER

Die Ärztekammer Berlin will ihre Ethikkommission erweitern und sucht dafür neue qualifizierte Mitglieder. Willkommen sind Kliniker, Pharmakologen und Biometriker, die bereit sind, monatlich 10 bis 15 Stunden ehrenamtliche Arbeit zu leisten. Ihre Aufgabe ist es, beantragte Arzneimittelstudien zu prüfen, „oberstes Ziel“: der Schutz potenzieller Versuchsteilnehmer.

Die Ausschreibung, bekannt gemacht in der Mitgliederzeitschrift, ist bemerkenswert. Denn sie dient einem Begutachtungswesen, das die Berliner Ärztekammer eigentlich gar nicht mehr verantworten will. Sie hat deshalb im September Klage beim Verwaltungsgericht gegen das Land Berlin eingereicht. Gekippt werden soll so eine Anordnung der Gesundheitsbehörde, welche die Ethikkommission der Ärztekammer verpflichtet, Arzneistudien rechtsverbindlich zu bewerten.

Hintergrund der Klage ist die im August in Kraft getretene 12. Novelle des Arzneimittelgesetzes (AMG), mit der Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) die Bedingungen für klinische Forschung verbessern und die Entwicklung neuer Präparate beschleunigen will. Einiges Aufsehen hat die AMG-Reform erregt, weil sie erstmals auch legitimiert, kranke Kinder in fremdnützige Medikamenten-Testreihen einzubeziehen. Zudem hat sie, von der Öffentlichkeit weniger beachtet, die Rolle von Ethikkommissionen, eingerichtet an Universitäten und Ärztekammern, neu definiert: Diese Gremien gelten nun als „Patientenschutzinstitutionen mit Behördencharakter“, ohne deren „zustimmende Bewertung“ eine beantragte Arzneimittelstudie nicht stattfinden darf.

„Wenn die Ethikkommissionen der Ärztekammern diese Aufgaben erledigen müssten“, erläutern die Berliner Kläger, „würde letztlich die Ärzteschaft in eine Zuarbeit für Pharmaunternehmen gezwungen.“ Obendrein fürchtet die Kammer massiven Druck derjenigen, für die sie „nicht zum Handlanger gemacht werden“ will: Arzneimittelhersteller können auf verweigerte Studiengenehmigungen oder Fristüberschreitungen nun mit Schadensersatzklagen reagieren. Geltend machen könnten sie zum Beispiel Einnahmeverluste wegen entgangener Patente oder verspäteter Marktzulassung eines Präparats. Haften muss die Kommission auch für Schäden bei Probanden, sofern diese auf Risiken zurückzuführen sind, die sie beim Prüfen eines Antrags übersehen hat.

„Haftpflichtversicherer schätzen mögliche Schäden auf einen Umfang im mehrstelligen Millionenbereich“, warnt die Berliner Ärztekammer. Die einzelnen Kommissionsmitglieder können für fehlerhafte Entscheide nur belangt werden, wenn ihnen Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit nachzuweisen ist. Ansonsten muss die Kammer, als Trägerin der Ethikkommission, für verschuldete Schäden einstehen. Dies könne die Standesvertretung schnell in die Pleite treiben, meint ihr Vorstand; sogar die Altersversorgung aller 25.000 Berliner Mediziner „wäre im Haftungsfall gefährdet“.

Dass dieses düstere Szenario irgendwann Realität wird, ist angesichts der vom AMG gesetzten Bedingungen nicht auszuschließen. Jedenfalls müssen die Kommissionen unter enormen Zeitdruck agieren: Die kürzeste, gesetzlich fixierte Prüffrist beträgt gerade mal 14 Tage; in der Regel haben die ehrenamtlichen Sachverständigen einen Monat Zeit, um einen eingereichten Studienantrag mit zahlreichen Anlagen – Gesamtumfang: rund 250 Seiten – zu lesen, zu beraten und, rechtsverbindlich, zu bewerten. Die 18-köpfige Berliner Kommission hat es pro Jahr mit rund 400 Arzneistudien zu tun.

Ob ein solches Korsett den offiziell propagierten Schutz von Versuchspersonen überhaupt gewährleisten kann – über diese grundsätzliche, für Probanden womöglich existenzielle Frage kann das Verwaltungsgericht beim Rechtsstreit zwischen Berliner Ärztekammer und Senat nicht befinden. Vielmehr geht es im Kern darum, ob es tatsächlich Aufgabe einer Standesvertretung oder eines von ihr getragenen Gremiums sein kann, Genehmigungen im Stile einer Behörde zu erteilen.

Bis Ende Januar sollen sich die Kontrahenten einigen oder das Gericht entscheidet; was bei dem Zwist herauskommt, müsste die Ärztekammern aller Bundesländer lebhaft interessieren. Eine Kompromissvariante wurde Mitte Oktober aus Hessen gemeldet. Die dortige Ärztekammer hatte sich nach der AMG-Novelle „zeitweilig außerstande“ gesehen, Prüfaufträge für Arzneimittelstudien anzunehmen. Inzwischen fühlt sie sich wieder gut – denn die hessische Regierung hat eingelenkt und schriftlich zugesichert, sie werde einen Teil der Haftung übernehmen.

Die Berliner Ärztevertreter wollen jedoch mehr als ihre hessischen Standeskollegen. Sie möchten erreichen, dass Berlin eine eigene Landesbehörde für Arzneimittelstudien installiert, womit die Kammer die Verantwortung für diesen Bereich loswerden würde.

Eine solche „Landesethikkommission“, für deren Entscheidungen im Konfliktfall auch Politiker und Steuerzahler geradestehen müssen, gibt es seit vielen Jahren im kleinsten Bundesland, also in Bremen. Die Geschäfte dieses Gremiums, das in Fach- und Industriekreisen nach wie vor als vergleichsweise penibel gilt, führte früher der Internist Hermann Schulte-Sasse. Heute ist er Staatssekretär für Gesundheit in Berlin.

Mag sein, dass seine Behörde letztlich doch noch den klagenden Ärzten entgegenkommt. Wer indes vorhat, Studienteilnehmer besser zu schützen, muss die Verfahrensvorgaben des AMG insgesamt auf den Prüfstand stellen.