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Archiv-Artikel

Grüß den Kanzler schön von mir

16. 10. 1994

Guten Tag, Verunja!

… Wie hast du dich in Berlin eingelebt? Wie geht es Euer Exzellenz dort? Wie ist die Stimmung? Schreib genauer und farbenreicher!

Bei uns hier wurde diese Woche in den Nachrichten Berlin gezeigt. Abends, so hieß es, soll man dort nicht spät mit der U-Bahn fahren – Horden jugendlicher Neofaschisten (sie haben ein paar gezeigt) überfallen die Fahrgäste. Also, geh nicht so spät auf die Straße! … Aber auch in unserem Haus hat „Amerika“ pur begonnen: Im Aufgang 5 wurde um 18 Uhr eine Frau überfallen (als sie in ihrem Stockwerk aus dem Fahrstuhl stieg), im Aufgang 13 (neben unserem) wurde am letzten Samstag um 19 Uhr auch eine Frau überfallen, und diesen Freitag wurde um 21.30 Uhr im Augang 12 ein Mann überfallen. Kurz, alle liegen ernsthaft verletzt im Krankenhaus. Und sie kriegen niemanden zu fassen.

17. 10. 1994

… Unser Haus ist eine echte Außenstelle des Irrenhauses. Gestern dröhnte aus dem Erdgeschoss den ganzen Abend Musik, bis 1:30 Uhr nachts. Dann war eine Pause zum Durchatmen. Um 2:30 Uhr kam Pawel und hat seine Musik angestellt. Gut, dass er nach einer Stunde den Kassettenrekorder in seine Küche getragen und dort weitergehört hat … Vor einer Minute war wieder Krach – Timur Uglow ist schlecht gelaunt nach Hause gekommen, er schlägt die Türen, rotzt auf den Fußboden (und manchmal pisst er auf den Treppenabsatz). Er hat jetzt ein neues Mädel, laut Lisa aus dem 2. Stock ist seine Großmutter sehr zufrieden damit, dass sie ihn dazu gebracht hat, seit zwei Jahren zum ersten Mal zu baden. Das Mädel musste mit ihm in die Wanne steigen …

15. 1. 1995

… das neue Jahr haben wir bei Großmutter eingeläutet … Es gab Heringssalat, amerikanische Hühnerkeulen und Piroggen … Großmutter hat uns zwei Stück finnische Schokolade geschenkt (die wird lose verkauft für 13.000 das Kilo) und wir ihr Geschirrspülmittel (hergestellt in Kooperation Paris, Wien, Minsk). Großvater hat wie immer nichts bekommen. Eine Tanne hatten sie nicht. Als wir von der Metrostation Tschornaja Retschka zu ihnen gingen, fegte ein Mann gerade den Platz, alles war zu, niemand bot Tannen an …

14. 5. 1995

… kürzlich konnte ich mich hier an euerm Kohl erfreuen – er hat im Kreml ein Interview gegeben, sehr interessant. Sie haben ihn übrigens weniger gezeigt als Clinton. Heute wurde in der Nachrichtensendung Itogi wieder einmal unsere russische Grobheit vorgeführt: bei der Eröffnung eines Denkmals. Als das Ehepaar Clinton ankam, war für sie vorne kein Platz mehr, so mussten sich die First Ladies aus den anderen Ländern in die zweite Reihe setzen – unsere „ersten Männer“ aus der Regierung dachten nicht einmal daran, sich vielleicht selber umzusetzen. Und noch tausend Kleinigkeiten dieser Art … Neuigkeiten erfahre ich, wenn ich zum Rauchen ins Treppenhaus gehe – sobald du rausgehst, wann auch immer, erfährst du eine Neuigkeit nach der anderen. Kürzlich bin ich abends rausgegangen, schaue nach unten, da steht ein Krankenwagen vor der Tür. Es stellte sich heraus, sie waren bei Tamaras Mamachen. Die hatten hier nebenan eine ganze Woche getrunken, die Mutter ging zehnmal am Tag Wodka holen – sternhagelvoll, sie schwankte, konnte aber noch gehen. Ich dachte noch: Die fällt sicher bald! Und tatsächlich – um 1:00 Uhr mittags segelte sie in der Toreinfahrt bei der Hausnummer 34 voll hin, die Wodkaflasche in ihrer Manteltasche blieb ganz, aber sie selbst hat sich den Oberschenkelhals gebrochen.

8. 12. 1996

Die Obraszowa ist wieder zu der Firma Ätna gefahren, um sich mit letzten Kräften erneut im Ankauf/Verkauf zu versuchen! Dieses Mal gaben sie ihr schwarze Stützstrumpfhosen aus irgendeinem Land, niemand weiß, aus welchem. An der Seite steht die Nummer 47. Auf der Packung steht auf Englisch „Only by Dupont“. Ich habe im Wörterbuch nachgeschaut, aber das Wort Dupont steht nicht drin. Die ersten beiden Wörter haben wir mit „nur für“ übersetzt. Diese Strümpfe sind gegen Krampfadern, Müdigkeit, langes Stehen auf den Beinen und nach Operationen. Die Tochter von Lena Lipko hat sich genau solche für 50 Tsd. Rbl. gekauft, weil sie den ganzen Tag im Café an der Kasse steht. Sie ist sehr zufrieden. Sie sind blickdicht, 70 den.

5. 1. 1997

… Bei Lena Lipko gibt es Unannehmlichkeiten mit ihrem Hund Sita, er ist an einer schweren Form der Hundepest erkrankt. Lena wandte sich an die Firma „Drei Kater“; es kam ein guter Jungveterinär. Der hat sich gewundert, wie stark der Hund erkrankt ist. Er wurde an den Tropf gehängt und bekam Spritzen. Alles in allem kostete die Behandlung 1 Mio., wenn nicht mehr. Jetzt geht es dem Hund ein wenig besser. Mittlerweile weißt du nicht mehr, wen du retten sollst, dich selbst oder die Tiere …

Texte aus: Natalja Nikolajewa, „Grüß den Kanzler schon von mir, Briefe und Geschichten aus Sankt Petersburg“. Berlin 2003, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Berliner Taschenbuch Verlags