: Das Dorf der unsichtbaren Millionäre
Es waren einmal 99 Menschen. Die wohnten in einem Fischerdorf namens Peschici in Süditalien. Eines Tages gewannen sie zusammen im Lotto – 32 Millionen Euro. Der Name des Dorfes wurde zum Synonym für das unverhoffte Glück. Das war vor fünf Jahren. Wo ist das viele Geld geblieben?
AUS PESCHICI PHILIPP MAUSSHARDT
Der Porschefahrer drängelt. Auf der kurvigen Straße entlang der Küste kann er nicht überholen. Erst kurz vor Peschici jagt er wie ein Pfeil an uns vorbei. „Bestimmt einer dieser neuen Millionäre“, schimpft die Beifahrerin. Wir sind da.
Peschici (sprich: Päskitschi) liegt auf einem Kalkfelsen hoch über dem Meer am Sporn von Italien. Manche sagen auch am Arsch der Welt. Jedenfalls weit weg von den wirtschaftlichen Zentren Italiens. Und doch kennt fast jeder Italiener seit dem 31. Oktober 1998 den Namen dieses Fischerdorfes. Er ist zum Synonym geworden für das unverhoffte Glück. Seit eben an jenem Samstag eine Lottogemeinschaft aus 99 Spielern den Jackpot mit 63 Milliarden Lire (ca. 32 Millionen Euro) knackte.
Wir halten an der Lottoannahmestelle von Fernando de Nittis. Sie zu finden, ist mittwochs und samstags nicht schwer: Es ist der Laden, vor dem die meisten Männer herumstehen. Mittwochs und samstags ist Annahmeschluss für die Ziehungen. Links neben dem Eingang hängt ein merkwürdiges Denkmal. Oder ein denkwürdiges Merkmal. Jedenfalls ist da ein Lottoschein in Marmor gehauen. Es ist jener Schein mit den richtigen sechs Ziffern aus 90, der die 4.300 Einwohner über Nacht in Gewinner und Verlierer teilte. In Jubler und Neider.
Fernando, seine Frau Lucrezia und sein Schwager Domenico stehen noch immer an sieben Tagen der Woche hinter dem Tresen. Nötig hätten sie das nicht, schließlich sind sie die wahren Gewinner. Von ihrem Systemschein waren sie damals nicht alle 99 Anteile losgeworden, so blieben sie auf einigen der Lose selbst sitzen. So ein Glück aber auch. Keiner in Peschici weiß genau, um wie viele Millionen Euro die Familie de Nittis nun reicher ist. Sie selbst reden nicht darüber. „Es reicht“, sagt Fernando. Warum er hier noch arbeitet? „Ja, soll ich mich deshalb erschießen?“
Einer hätte sich beinahe erschossen. Na ja, schwer enttäuscht war er jedenfalls über seine Mitbürger, der Metzger Domenico Tavaglione gleich ums Eck. Da gewinnt er einmal im Lotto, und schon bleiben die Kunden weg. „Die sind nach meinem Gewinn alle zur Konkurrenz gelaufen, weil sie glaubten, ich hätte es ja nicht mehr nötig.“
Inzwischen kommen sie wieder, aber irgendetwas anderes ist verschwunden: „Früher waren wir alle arm. Jetzt tun manche nur noch so“, sagt der Buchhändler Michelantonio Piemontese. Er hat sein kleines Geschäft genau gegenüber dem Lottokiosk. Jeden Mittwoch und jeden Samstag sieht er mit traurigen Augen hinüber. „Schaut sie euch an, diese Menschen“, sagt er. „Sie beten diesen Kiosk an wie einen heiligen Ort. Manche kommen sogar von weit her, um ihren Schein hier abzugeben. Es ist zum Verzweifeln, wir sind hinter die Aufklärung zurückgefallen.“
Der Porschefahrer kam nicht aus Peschici. „Sie werden hier keinen Porsche finden“, sagt Bürgermeister Franco Tavaglione. „Die Bürger von Peschici sind vernünftige Leute. Sie haben ihr Geld gut angelegt, ihre Häuser renoviert oder in den Tourismus investiert.“
Kein Wunder, dass der Bürgermeister über die Gewinner kein schlechtes Wort verliert. Er verdankt seine Wahl nicht zuletzt dem Lottogewinn. Sein Vorgänger hatte sich kurz nach der rauschenden Siegesnacht öffentlich über die Spieler lustig gemacht und gesagt, es sei „sinnvoller, seiner Frau einen Blumenstrauß zu kaufen, als das Geld in einen Lottoladen zu tragen.“ Daraufhin haben sie ihn abgewählt.
Tatsächlich sieht man im Straßenbild kaum etwas von dem neuen Reichtum. Die Fassaden waren vielleicht einmal weiß, und am Hafen gammeln die alten Blechbaracken noch immer vor sich hin. Eine der Baracken gehört Rocco da Renzo, einem Fischer. Am Tag nach seinem Lottogewinn hatte er getönt: „Ich verschenke mein Boot und schaue mir das Meer nur noch vom Liegestuhl aus an.“
Aber, wie der Bürgermeister schon sagte, die Einwohner von Peschici sind vernünftige Leute, und so hat auch Rocco, der Fischer, sein Boot zwar verschenkt, dafür aber gleich ein etwas neueres gekauft. Jetzt fischt er wieder wie eh und je.
„Sehen Sie die Frau dort?“, sagt Michele Marino, als er mit uns die Straße überquert. „Die hat richtig gewonnen, richtig, meine ich, nicht nur ein Viertellos wie meine Frau.“ Der Gemeindebedienstete deutet auf ein altes Weiblein, das ganz in Schwarz gekleidet in einer engen Gasse verschwindet. Es ist die Restaurantbesitzerin Filomena Salcuni, die später im „Piccolo Paradiso“ auf der Terrasse sitzt und beobachtet, ob ihre Angestellte, ein Mädchen aus Bulgarien, auch schnell genug die Gäste bedient. Das Restaurant ist jetzt doppelt so groß wie früher, die Nudeln blieben allerdings gleich schlecht. „Die Leute glauben, ich sei reich. Aber schauen Sie sich um, wir leben genauso wie früher“, sagt sie.
Niemand will zeigen, was er hat. Und der einzige Ferrari-Fahrer von Peschici besaß den Sportwagen schon vorher. Matteo d’Amato hätte es am wenigsten nötig gehabt, im Lotto zu gewinnen, sagen die Peschiciani, Matteo war schon davor ein Millionär. Matteo ist Tourismusunternehmer und entschuldigt sich denn auch für sein Glück: „Ich wollte ja gar nicht spielen, aber dieser Fernando hat mir einfach anstatt Rausgeld diesen Lottoschein in die Hand gedrückt. Da habe ich ihn halt genommen.“
Nicht einmal Don Giuseppe, der Herr Pfarrer, ist so recht glücklich. Don Giuseppe hat es sich bei vielen seiner Schafe verscherzt, weil er schon am Tag danach die Gewinner an ihr schlechtes Gewissen erinnerte. Sie sollten gefälligst einen Teil des Geldes für die Operationskosten eines behinderten Kindes spenden, hatte er gedonnert. Zur Strafe bekam er selbst nichts, jedenfalls nicht viel, oder was sind 25.000 von 32 Millionen Euro? Ziemlich genau 0,8 Prozent.
Doch einen gibt es, der strahlt über das ganze Gesicht. Es ist der Sohn von Fernando, dem Kioskbesitzer. Vincenzo de Nittis, 28, wäre wahrscheinlich sein ganzes Leben den Sommer über in dem etwas angejahrten „Hotel di Peschici“ an der Rezeption gesessen. Und im Winter hätte er nicht gewusst, was tun.
Jetzt aber ist Vincenzo de Nittis „Manager“. Dank seiner Lottoeltern besitzt er ein Feriendorf mit 55 Apartments, direkt am Strand. Auch wenn es Abend wird im ehemaligen Fischerdorf: Vincenzo setzt die Sonnenbrille nicht mehr ab. Er ist der begehrteste Junggeselle weit und breit. Man soll nicht sehen, wohin er schaut.