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Archiv-Artikel

Bei Anruf Buch

Sublimation, Projektion und Größenwahn: Der Schriftsteller Peter O. Chotjewitz schreibt in seinem neuen Buch „Alles über Leoardo aus Vinci“ alles auf, was er über Leonardo da Vinci weiß, und legt dabei fleißig Fährten zur eigenen Vita aus

Wie Chotjewitz sich Leonardo da Vinci vorstellt, hat viel mit den Projektionen eines narzisstischen Biografen zu tun

VON JAN SÜSELBECK

„Das Telefon klingelte gegen halb zehn. Um die Zeit schlafe ich normalerweise tief und fest. Ich hatte gerade ein Buch fertig (den Roman über Machiavelli) und verbrachte die Abende bis zur Polizeistunde damit, meine diversen Kneipenbekanntschaften zu unterhalten, indem ich mir einen ausgeben ließ.“ So beginnt Peter O. Chotjewitz ein Kapitel seines neuen Werks, das erläutert, wie er „auf den Gedanken kam, über Leonardo zu schreiben“.

In der Tat: Wieso verfasst Chotjewitz ein Buch über Leonardo da Vinci? Die plötzlich „hellwache“ Antwort des Autors, der von seinem Verleger aus den Träumen gerissen wird, lautet: „Über Leonardo weiß ich alles.“

Was aus diesem Telefonat folgte, liegt also jetzt im Druck vor. Und man muss gleich schon einmal vorweg sagen, dass es ein sehr schöner Band geworden ist – mit vielen instruktiven Abbildungen, großflächigen Seiten und geschmackvoller Typografie. Aber: Weiß Chotjewitz wirklich „alles“ über den berühmten Tausendsassa Leonardo aus Vinci (1452–1519)? Steht nicht schon in jeder nächstbesten kunsthistorischen Abhandlung alles Nötige zum Thema zu lesen?

Die „seriöse Publizistik boomt, doch sie leidet auch unter den Fliehkräften der Forschung“, wiegelt der Klappentext vorsorglich ab; die Veröffentlichung verstehe sich „als Bilderbuch, Biografie und Nachschlagewerk“. Und: „Alles über Leonardo zeigt auch die Stiefkinder der Forschung – die Spekulationen über sein Liebesleben und sein angebliches Geheimwissen.“

Womit wir beim Thema wären. Denn Leonardo beschäftigte sich neben seinen weltberühmten Malereien nicht nur mit so ausgefallenen Problemen wie der Frage, „Warum das Wasser salzig ist“ oder der These, „dass grobe Menschen mit schlechten Sitten und geringem Urteil kein so schönes Instrument verdienen wie den menschlichen Körper, sondern bloß einen Sack, der die Nahrung aufnimmt und durch den sie wieder hinausgeht“. Nein: Leonardo soll auch schwul gewesen sein!

Da nun in Chotjewitz’ Buch „alles“ über Leonardo stehen soll, kommt der Autor auch an solchen Spekulationen nicht so einfach vorbei. Es war Sigmund Freud, der in seinem berühmten psychoanalytischen Aufsatz über „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“ (1910) die These aufstellte, dass unter anderem Leonardos Erinnerung an einen Geier, der ihn als Kleinkind in der Wiege besuchte, diese sexuelle Orientierung nahe lege. Dass dieser Geier in Leonardos Anekdote „den Mund des Kindes öffnet und mit dem Schwanz tüchtig darin herumarbeitet“, deutet Freud als Fellatio-Wunsch, der „gewissen Träumen und Fantasien von Frauen oder passiven Homosexuellen“ ähnele.

Chotjewitz rekapituliert den berühmten Text ausführlich, nicht ohne Kritik an den darin aufgestellten Theoremen laut werden zu lassen. Freuds Schlussfolgerung, Leonardo sei wohl ein Mann gewesen, „dessen sexuelle Bedürftigkeit und Aktivität außerordentlich herabgesetzt war, als hätte ein höheres Streben ihn über die gemeine animalische Not der Menschen erhoben“ – also ein Künstler, dessen Werk paradigmatisch für das stehe, was man gemeinhin „Sublimation“ nennt, kommentiert Chotjewitz passenderweise lakonisch: „Das wäre hart gewesen.“

Die Kapitel seines Buchs wechseln in lockerer Folge ihre Perspektive, wobei die ab und zu eingeschaltete, stichwortartige Wissensvermittlung nerven kann, wenn man versucht, den Band von vorne bis hinten durchzulesen. Das sollte man lassen. Gleichzeitig wäre es aber auch falsch, das Gebilde als bloßes Handbuch abzutun, in dem man „Alles über Leonardo“ nachschlagen kann. Vermutlich fände man dazu anderswo fachkundigere Auskunft.

Nein: Die Qualität des Buchs liegt darin, dass es randvoll Chotjewitz’schen Humors ist. Der Autor gibt sich sympathischerweise auch gar keine Mühe, überkandidelte Identifikationen mit dem großen Phantom Leonardo in irgendeiner Weise zu überspielen. Eine der fiktiven Textebenen ist konsequenterweise die anhand greifbarer biografischer Fakten aus der Ich- Perspektive nacherzählte Lebensgeschichte des großen Malers, Baumeisters und Erfinders aus Vinci. Man darf also annehmen, dass auch ein Gran genüsslichen Größenwahns dahinter steckt, wenn Chotjewitz seinen Leonardo in der berühmten Florenzer Domkuppel sinnieren lässt: „Die Dinge lagen vor meinen Augen wie in einer Spielzeugkiste. Nie hatte ich so hoch oben gestanden und so tief hinabgeschaut, und wie in mir zum ersten Mal die Sehnsucht erwachte, selber zu fliegen, wie die Tauben, die den Kirchenbau von allen Seiten umkreisten, und die großen Milane, die von Fiesole in weiten Kreisen sich herabschwangen und sich in die Gärten stürzten, begriff ich, warum unsere Vorfahren die Idee hatten, ein Bauwerk von babylonischer Höhe zu errichten.“

Naturgemäß ist auch Chotjewitz’ hybrides Buch selbst ein solches Bauwerk. Und zu den schönsten Passagen darin gehören diejenigen autobiografischen Erzählstränge, in denen der Autor aus seiner Kindheit berichtet, um begreiflich zu machen, wie er selbst mit Leonardo erstmals in Berührung kam. „Erkennen ist nicht beliebiges Abbilden (etwa heute als Fotografieren), sondern Gegenständlichwerden des vom Geiste Gesehenen“, lautet ein Diktum Karl Jaspers’, das gleich zu Beginn des Buchs zitiert wird.

„Gegenständlich“ wird hier also nicht nur vieles aus der Vita Leonardos, sondern auch aus dem Leben dessen, der hier „alles“ über ihn erzählen will. Denn was Chotjewitz dabei „im Geiste“ sieht, dürfte in nicht geringem Maße mit dem zu tun haben, was Freud einst als „Projektion“ narzisstischer Biografen analysierte. So wird man ebenso wenig fehlgehen, wenn man in jener locker eingestreuten Kapitelfolge, in der „der Autor berichtet, wie sein Freund Hubert nach Florenz reist“, eine Geschichte vermutet, die sich so oder so ähnlich im Leben Chotjewitz’ selbst abgespielt haben mag.

Hubert fährt mit der sehr viel jüngeren Kunststudentin Laura auf eine Pilgerfahrt zu den Leonardo-Kultstätten Italiens. Sie kommen sich planmäßig näher und schlafen miteinander: „Sie fand, er leistete zu wenig, er fand ihr Wunschdenken übertrieben.“ Schließlich kommt in einer Florenzer Herberge das Klischee eines jüngeren „Skilehrers“, „muskulös und kraushaarig“, dazwischen. Was dann geschieht, kann jeder im Kapitel „Das Abortivum“ selbst nachlesen.

Mit Leonardo hat das bestenfalls noch mittelbar zu tun, und der maulende Vorwurf muffiger Altherren-Erotik wird demnächst sicherlich auch noch irgendwo erhoben werden. Doch der Autor weiß schon, was er mit seinem nicht zuletzt intertextuellen Versteckspiel bezweckt: Er sammelt Leonardo-Spuren und legt dabei, in einer Art selbstherrlicher Biografiensinfonie, fleißig Chotjewitz-Fährten aus.

Geradezu zwangsläufig wird dabei auch der Titel desjenigen pornografischen Altersromans zitiert, an den der Leser aufgrund der vexierbildhaften Erzählform des Buchs immer wieder denken muss: „Vorerst aber, den Abend mit Goldrand, bevor sie in den Park hinuntergingen, dedizierte Hubert dem obskuren Subjekt seiner Begierde durchs Küchenfenster in der Gästeetage.“

Nur: Chotjewitz ist dann doch noch nicht so weit wie Arno Schmidt. Ein so großer Wurf wie dessen letztvollendeter autobiografischer Zeitroman „Abend mit Goldrand“ (1975), der in seiner kunstvollen Textstruktur Motiven aus Hieronymus Boschs Gemälde der „Variedad del mundo“ folgt, ist „Alles über Leonardo“ natürlich nicht – und zwar schon ganz einfach deshalb nicht, weil Chotjewitz’ Projekt viel zu sehr Sachbuch bleibt, anstatt sein Thema gleich ganz in Form eines modernen Romans zu behandeln: Das wäre ihr Preis gewesen, Herr Chotjewitz!

„Der Autor erwartet in seinem oberlehrerhaften Bildungsdünkel offensichtlich, dass die Leute sich ausgerechnet für jene Antiquitäten und alten Bücher interessieren, unter denen er begraben liegt“, mokierte sich Chotjewitz 1972 im Tagesspiegel über Arno Schmidts im selben Jahr erschienenen Dialogroman „Die Schule der Atheisten“. Das war eine Rezension, „die mir in meinem Leben nicht nur Freunde gemacht hat“, wie ihr Autor heute schon mal hinter vorgehaltener Hand verrät – und die gleichzeitig von einem dichterischen Phänomen zeugt, das der Literaturwissenschaftler Harold Bloom einmal als „Einflussangst“ bezeichnete: nämlich von dem produktiven Versuch, einen großen konkurrierenden Vorgängerschriftsteller qua „Fehllesung“ aus dem Weg zu räumen.

Es ist wohl die Ironie der Literaturgeschichte, dass Chotjewitz über dreißig Jahre – aber leider noch nicht ganz! – selbst dort angekommen ist, worüber er sich seinerzeit noch so lautstark empörte: „Die ziemlich uninteressante, unübersichtliche und weitschweifige (jedoch immer betulich-trivial verknüpfte) Romanhandlung dient ohnedies in erster Linie als Aufhänger für Reflexionen, Aphorismen, Hinweise, Interpretationen, innere Monologe et cetera, die nur der Leser verstehen kann, dessen Kopf mit der gleichen unnützen Büldung [sic] vernagelt ist wie Arno Schmidts. Vieles davon ist überflüssig.“ Der das schrieb, ist auf dem bestem Wege, genau diese „Überflüssigkeit“ selbst zu erreichen. Hoffen wir, dass er ihr in seinem nächsten Buch endgültig nachgibt.

Peter O. Chotjewitz: „Alles über Leonardo aus Vinci“. Nach bestem Gewissen erläutert, mit vielen Zeichnungen und Bildern, Reisenotizen des Autors und einer Autobiografie Leonardos. Europa Verlag, Hamburg 2004, 447 Seiten, 29,90 €