BERNHARD PÖTTER über KINDER : Ein Blick zurück ins Mittelalter
Das war 2004: Die Erinnerung an das Massaker in Beslan ist ein Albtraum. Kinder zu haben heißt, hilflos zu sein
Achtung! Der nachfolgende Text enthält natürliche und naturidentische Gefühle, die Ihre Tränendrüse reizen könnten. Er ist für Zyniker und Obercoole ungeeignet.
Anne Will hatte den Kanzler abgefertigt und war mit Angela Merkel Bus gefahren. Anna und ich sitzen auf dem Sofa und schauen in die Glotze. Im Jahresrückblick läuft das Jahr in Fast Forward an uns vorbei. Eine Tragödie nach der anderen: der deutsche Fußball bei der EM. Hartz IV. Die Vielseitigkeitsspringer in Athen. Horst Köhler. Fertig verpackt und vakuumversiegelt lag 2004 vor uns. Alles ist gesagt, alles entschieden: Wort des Jahres, Unwort des Jahres, Mann, Frau, Baum, Vogel des Jahres, alles durch. „Was war dein Moment des Jahres?“, fragt Anna. „Was hat dich wirklich berührt?“
Eigentlich mache ich mir keine Gedanken zu Charts. Aber gut. Ganz vorn dabei: diese Januarnacht, in der sich Baby Stan mit einem Blitzsieg ins Leben kämpfte. Dieser Februartag, der Annas Karriere veränderte. Dieser Dezembernachmittag, an dem Tina stolz mit ihrem Selbstporträt in Öl aus der Kita kam. Oder dieser Augustmorgen, an dem Jonas eingeschult wurde.
Aber der wirkliche Moment des Jahres ist der 3. September in einem Nest im Kaukasus namens Beslan. 33 Terroristen überfallen die Schule Nummer eins, als dort gerade Einschulung gefeiert wird. Sie pferchen 1.251 Geiseln in die Turnhalle. Nach dem Ende der Aktion sind 330 Geiseln tot, davon 176 Kinder und Säuglinge. 600 Menschen, darunter viele Kinder, werden verletzt.
Beslan ist der Blick in den Abgrund, bei dem einem schwindlig wird. Eine Tür zum Mittelalter, ein tiefer Kratzer in dem, was wir Zivilisation nennen. Und Beslan ist der wahr gewordene Albtraum aller Eltern: hilflos zusehen zu müssen, wie die eigenen und fremde Kinder über Tage gequält und ermordet werden.
Kinder leiden überall. Sie sterben in Darfur, sie ertrinken in der Flutwelle in Indien und Indonesien, sie werden als billige Bau- und Sexsklaven misshandelt und als Kindersoldaten missbraucht. Weltweit hungert jedes zweite Kind. Aber Beslan ist der Dammbruch zum totalen Terror, schlimmer noch als der 11. September in New York und Washington. Für die Ziele in den USA ließ sich nach Gründen suchen („Die Türme der Ungläubigen“), wie verbrecherisch diese auch waren. In Beslan war immer klar: Es trifft nur Unschuldige und Wehrlose.
Die drei Tage im September vor BBC und CNN machen mir auch so klar wie nie zuvor: Was uns nicht schlafen lässt – Jonas kann noch nicht lesen, Tina hustet schon die dritte Woche, Stan lutscht am liebsten giftige Orangenschalen – sind Sorgen, die 95 Prozent der Weltbevölkerung gerne hätten. Aber überdeutlich wird in Beslan auch: Wer Kinder hat, ist besonders verwundbar. Die verspiegelte Sonnenbrille, das lässige Auftreten, der Panzer unseres Egos – alles Quatsch, wenn unser Sohn oder unsere Tochter in Gefahr sind. Jemand hat gesagt: „Kinder zu haben ist so, als ob ein Teil deiner Seele frei herumläuft.“ Jeder kann darauf herumtrampeln.
Beslan zeigt aber auch, dass es Aufklärung und Zivilisation schwer haben. Und zwar nicht nur bei den Terroristen. Auch wir stehen mit einem Bein im Mittelalter. Darf man einen Kindesentführer foltern, um das Opfer zu retten? Man darf es nicht. Würden Sie es tun oder billigen, wenn es um Ihre Kinder ginge? „Die Frage darf man so populistisch nicht stellen“, heißt es. Dann dürfte aber auch das Leben nicht so populistisch sein.
„Papa, bist du noch böse?“, fragt Tina. Sie steht plötzlich vor dem Sofa. Kurz zuvor habe ich gemeckert, weil sie sich nur noch von Duplo ernährt. Am 3. September habe ich das Wort böse zum ersten Mal seit Jahren wieder in einem anderen Zusammenhang gedacht. Ich saß vor dem Fernseher mit einer schwachen Ahnung von dem, was da in der Beslaner Turnhalle in den Kindern und ihren Eltern vorging. So könnte es sich anfühlen, das Böse.
Tina ist im Bett. Jonas auch. In dieser Nacht schreit, nörgelt, weint und würgt Baby Stan. Viermal. Fünfmal. Sechsmal. Gut so.
Fragen zur Hilflosigkeit? kolumne@taz.de MORGEN: Bettina Gaus über FERNSEHEN