: Die Zeit als U-Bahn
Ein großes pseudopoetisches Aufblähen, eine einzige riesige Pose: Liane Dirks’ leider verunglückter Roman „Narren des Glücks“
Schade. Das letzte Buch von Liane Dirks, „Vier Arten meinen Vater zu beerdigen“ aus dem Jahr 2002, war so gelungen in seiner gewagten (auto-)biografischen Annäherung an den Schänder-Vater, der Ton darin so geglückt in seiner Präzision, seiner Schonungslosigkeit, in der Gegenüberstellung der Perspektiven, dass der jetzige Roman einen tief fallen lässt.
„Narren des Glücks“ heißt er und handelt sogar von der gleichen Zeit: den zügellosen Zwanzigerjahren mit all ihrer Verderbtheit, die schon so katastrophenschwanger war. Hier allerdings gerät Liane Dirks in einen schwer zu ertragenden archaisierend-märchenhaften Tonfall, der seine Leser fortwährend für dumm verkauft und mit einer Kitschschicht überzieht, was auch sonst schlicht angelegt ist.
Es ist etwas Schreckliches passiert, soviel ist gleich klar, schon das Wetter ist so was von Unheil verkündend, das kann gar nicht gut ausgehen. Die Katastrophe, angedeutet vorweggenommen und dann das ganze Buch über raunend umkreist, ist ein Mahnmal der Dekadenz am Vorabend der faschistischen Katastrophe und findet daher Silvester 1929/30 statt, wie man sich am Ende zusammenreimen kann – viele Informationen muss sich der Leser zusammenreimen, denn die Technik unaufgelöster Personalpronomen, überhaupt von Nichtbenennungen, ist hier arg überstrapaziert, allerorten schreit der Text Geheimnis! („und zog die Schärfe nach, drehte mit der rechten Hand an der Feinabstimmung“ – nach längerem Nachdenken wird klar: Die Person muss durch ein Fernrohr blicken.)
Naja. Folgende Menschengruppen und Handlungsfäden illustrieren die Endzeit: ein dekadenter Extremkapitalist, der die sagenhafte Silvestersause auf seiner Privatinsel im Lago Maggiore veranstaltet. Von ihm ausgebeutete Dörfler, schlicht, arm auch im Geiste. Eine unbeugsame zaristische Russin, ebenfalls angeschmiert vom bösen Industriellen. Und dann die „Narren“: putzige Irre, harmlos verklärte Psychiatriefälle, so „Madame Hystérie, der dürre Spastiker und das debile Lottchen“. Sie haben Glück: Ihr Psychiater ist Konrad Nemeczi, illegitimer Halbbruder des verderbten Millionärs, ein guter Mensch, unglücklich liebend sowie kämpfend für eine offene Psychiatrie.
Ja, da kommt einiges zusammen, was nicht hätte sein müssen, der Strang etwa mit den wissenschaftlichen Querelen, die der revolutionäre Psychiater ausficht, ist wirr und schürt nebulös Tiefsinn, der genau betrachtet nicht einmal Sinn ergibt: „Es gab sie, die dem Leben übergeordnete oder besser untergeordnete Zeit. Wie eine Untergrundbahn durchzog sie unser Leben. Sie war die Seelenzeit. Wenn man sie nicht verstand, verstand man gar nichts.“ Ah?
Der ganze Text ist ein raunendes Aufplustern zu Bedeutsamkeit, pseudopoetisches Aufblähen, eine einzige riesige Pose. Bedeutungsschwere wird etwa durch Zerhacken von Sätzen gefertigt: „Ein aufgewecktes Kind. Dessen Fortgehen den Arzt tief anrührte. Im Herzen.“ Spannung wird effektgeheischt, die Klischee-Charaktere durch plumpen Einsatz der erlebten Rede verdeutlicht. Null-Dialoge mit dem Kind oder dem Personal werden zum Besten gegeben –„ ‚Dottore, soll ich Ihnen den Mantel bringen?‘ – ‚Ja bitte‘ “; der zeitliche Abstand wird sprachlich gerne durch ein vorangestelltes „nun“ markiert.
Es ist ein Elend. Und man weiß nicht, was eigentlich damit gezeigt werden sollte oder warum – dieses verunglückte Zeitkolorit wirkt unmotiviert, bar jeder Dringlichkeit, ohne irgendeine Anbindung, als hätte man der Autorin das Thema verordnet. Herausgekommen ist schlecht gebürstetes Kunsthandwerk. MAJA RETTIG
Liane Dirks: „Narren des Glücks“. Kiepenheuer & Witsch. Köln 2004, 224 Seiten, 17,90 Euro