: Lesen als Handlung
Breakbeat-Geknatter statt Disco-Sounds: Thomas Meineckes jüngster Roman „Musik“
VON GERRIT BARTELS
Ob das wohl Fragen sind, die Flugbegleiterinnen der Lufthansa und ihre männlichen Kollegen sich gemeinhin bei der Arbeit so stellen? „Weshalb gilt die performative Überschreitung der sexuellen Identität vom Weiblichen zum Männlichen als Akt der Souveränität, der Ermächtigung, der umgekehrte Schritt hingegen, die affirmative Öffnung des Mannes gegenüber der gern als unbeschreiblich weiblich verschleierten sozialen Rolle der Frau als ästhetisch wie politisch zutiefst peinliche Geste der Unterwerfung, als, kurzum, heterosexuelle Bankrotterklärung?“. Es ist Karol, einer der beiden Hauptfiguren aus Thomas Meineckes jüngstem Roman „Musik“, der diese Frage an seine Kollegin Heidi richtet, als beide auf dem Weg zu ihrem Flugzeug sind, und ohne Zögern eine Antwort bekommt: „Weil es unsere männliche, das Verhältnis der Geschlechter hierarchisierende Grammatik so haben will“, weiß Heidi.
Selbstverständlich dürften Tätigkeiten wie Getränkedosen sortieren und Essen austeilen genügend intellektuellen Spielraum lassen, um irgendwo über den Wolken erschöpfende Gender-Debatten zu führen, doch bleibt die Vorstellung von einem auf diese Weise miteinander schwatzenden Flugpersonal eine seltsame und fremde. Thomas Meinecke, das weiß man von seinen vorherigen Büchern, ist nicht daran gelegen, mitten aus dem prallen Leben zu schöpfen. Höchstens aus dem prallen Leben der Theorie, Stichwort Identitätspolitik, und dem der Musik, Stichwort Black Music. Und Meinecke will, wie er seine andere Hauptfigur, Karols Schwester Kandis, von Beruf Schriftstellerin, einmal in einer überraschenden Alter-Ego-Überblendung sagen lässt, die „täglich von neuem andrängende Gegenwart“ protokollieren, und dabei stelle sich vielleicht „ein narrativer, sagen wir: Lufthauch ein, womöglich auch ein klärender Durchzug, der Türen aufreißt, andere zufallen lässt“.
Allerdings muss man sich anstrengen, diesen narrativen Lufthauch beim Lesen von „Musik“ zu spüren. Die Existenz von Kandis, Karol und aller anderen Figuren dient lediglich als literarische Krücke für eine große, in vielen Häppchen dargebotene Text- und Materialsammlung. Diese speist sich aus Büchern, Zeitschriften und dem Internet entnommenen Lesestücken, und in dieser finden sich die Plattencover von Disco-Formationen wie den Ohio Players in einem gleichberechtigten Nebeneinander etwa mit „super“ Fundstücken aus Friedrich Nietzsches Notizheften. Klar, dass Kandis und Karol beide an Buchprojekten sitzen. Sie plant ein Buch über Berühmtheiten, die allesamt am 25. August Geburtstag haben, wie Ludwig I., Ludwig II. oder Claudia Schiffer, oder die an diesem Tag gestorben sind, wie eben Friedrich Nietzsche, die R&B-Sängerin Aaliyah oder Truman Capote. Da gilt es neue, ungeahnte Bezüge herzustellen. Und Karol recherchiert für eine Untersuchung namens „Sweet versus Hot“, und zwar anhand von Musik, wie er sagt, in der es um „das von Geheimnissen umwitterte Verhältnis der Geschlechter“ gehen soll.
Dieses ist dann auch, Judith Butler lässt grüßen, eines der Leitmotive dieses Romans, der sich thematisch und formal wenig von seinen Vorgängern „Tomboy“ und „Hellblau“ unterscheidet: Warum ist ein Mann ein Mann und wann ist er eine Frau? Warum ist eine Frau eine Frau und wann ist sie ein Mann? Lassen sich diese Kategorien überhaupt aufrechterhalten? Wie verhalten sich Homo- und Heterosexualität zueinander, was ist hier Original, Kopie und Abweichung?
Um das herauszufinden oder zumindest zu diskutieren, bieten sich Kandis’ Personengruppen genauso an wie Karols, sie vermengen sich gar aufs idealste miteinander. Hier D. H. Lawrence, dessen Roman „Mr. Noon“ tolle Gender-Studies-Stellen enthält, dort die schwarzen female Big Bands der Vierzigerjahre, die die Bedeutung des Swing und seinen Einfluss auf neuere Black-Music-Sounds in einem anderem Licht erscheinen lassen. Hier Claudia Schiffer als potenzielles feministisches Supermodel, dort R&B-Künstlerinnen wie Beyonce oder Missy Elliott, die sich kaum noch als Objekte eines sexistischen männlichen Blicks deuten lassen.
„Musik“ ist so ein Roman der zerstreuten wie auch der gezielten Wahrnehmung, ein Roman, der zum Querlesen einlädt, der vom Querlesen handelt, aber eben auch ganz im Sinn von: „Queer lesen als subtile Kulturtechnik, die auf die Denaturalisierung normativer Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit, die Destabilisierung des Binarismus von Hetero- und Homosexualität (…) zielt“. Dabei entfaltet er seine Reize, indem er unentwegt teils luzide, teils sehr schwere Theoriebrocken hinwirft, nur um sich dann wieder Dr. Buzzard’s Original Savannah Band oder Beyonces neuem Album zuzuwenden.
Dabei wirkt der Roman aber auch ausgerechnet dort eine Idee zu angestrengt, wo er versucht, die Gegenwart facettenreich abzubilden; wo er auch den Irakkrieg in Form von Fernsehbildern einblendet oder sich Karol und Kandis auf Partys herumtreiben, ganz ohne diskursive Hintergedanken übrigens. Wo also der Nerd zum profanen Aufzeichner wird. Und „Musik“ ist dann auch stellenweise recht quälend und gemein. Denn wo ein Klaus Theweleit seine ungebetenen Biografien zu Ende schreibt, da blendet Thomas Meinecke immer wieder aus; haben Kandis’ ausgewählte 25.-8.-Persönlichkeiten endlich ihre Autorin, ihren Autor gefunden, müssen sie doch immer wieder, wenn es interessant wird und man sich etwa für die Vita von Ludwig II. zu interessieren beginnt, neuem Material weichen.
Manchmal beschleicht einen da der Verdacht, bei „Musik“ stehe die Konstruktion über dem Inhalt. Hauptsache, der Drehtüreffekt stimmt, Hauptsache, jede Narration wird auch auf der Ebene des Biografischen und des Diskursiven durch Breaks, Samples und Übersteiger verhindert. Der Rhythmus, zu dem man unbedingt mitmuss, der ach so deepe Flow, den gibt es nicht: Breakbeat-Geknatter geht in „Musik“ immer vor Disco. Der im Übrigen auch direkt aus Meineckes Schreibwerkstatt stammende Verweis auf Flauberts unentwegt lesende Romanfiguren Bouvard und Pecuchet ist da fast schon ein Euphemismus: Nie zuvor war Lesen so sehr als Handlung geschildert worden. Und weiter im Text mit einem Song der Neptunes.
Theorie in so einem Umfeld zu lesen macht Spaß, und Denken und Pop passen ganz wunderbar, das hat Meinecke oft bewiesen; doch Theorie will vielleicht eines Tages mal, wenn schon nicht im richtigen Leben, so doch in einer traditionellen Erzählung ausprobiert werden. Musik muss ja nicht immer die erste Liebe sein, wenn es um Schreibweisen geht. Und wenn das daneben geht: ein Plätzchen unter den großen Scheiterern von Pop und Kultur findet sich immer, etwa zwischen ABC („The Beauty Stab“), Hermann Burger („Brenner“) oder Michael Cimino („Heavens Gate“). Den ewig gleichen und möglicherweise nie perfekten Roman kann Meinecke dann, wie es sich für einen ordentlichen Schriftsteller gehört, noch oft genug schreiben.
Thomas Meinecke: „Musik“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, 372 Seiten, 19,80 Euro