: Auf der Suche nach neuen Suchtmitteln
Überforderung, Grenzverletzungen und Exzess sind Markenzeichen der Volksbühne, die wie kein anderes Theater in den Neunzigerjahren so intensiv an der Durchdringung von Populär- und Hochkultur gearbeitet hat. Doch jetzt zeigt das Haus Ermüdungserscheinungen und leidet unter dem eigenen Ruhm
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Als Fan und als Kritiker: Wir hängen an der Berliner Volksbühne. Kein anderes Theater hat in den Neunzigerjahren so intensiv an der Durchdringung von Populär- und Hochkultur gearbeitet und aus der Differenz der Sozialisationen Ost und West so produktive Funken geschlagen. Von keinem anderen Theater erwartet man so viel und erlaubt ihm im Gegenzug auch, den Besucher mehr zu fordern als andere Bühnen.
Gewiss gehören Frank Castorf, René Pollesch und Christoph Schlingensief zurzeit nicht nur zu den bekanntesten Regisseuren, sondern zu den bekanntesten deutschen Künstlern überhaupt. Und dennoch – oder vielleicht auch gerade deswegen – scheinen sie sich gefährlich nah an jenen Sphären zu bewegen, in denen die eigene Mythologie alles andere überformt. Ganz sicher sind sie alle drei „Primärkünstler“ und keine „Handwerker“, wie die Regisseurin Andrea Breth den alten Streit zwischen Regietheater und einem dem Corpus der überlieferten Texte verpflichteten Theater gerade neu polarisiert hat. Das unterscheidet die Volksbühne noch immer von den meisten Bühnen, dass viele Stücke überhaupt erst im Prozess der Proben entstehen: Polleschs fortwuchernde Texte, deren Figuren, Konflikte und Sounds von Folge zu Folge fließen und mäandern, Schlingensiefs permanentes Schürfen in den Erlösungsfantasien der Kunst und auch Castorfs Romanadaptionen, deren Text- und Drehbuch vorher nicht festgelegt sind. Aber gerade dass sie ihrem Gestus und Konzepten treu bleiben, bringt auch den Effekt hervor, dass die Inszenierungen sich zu gleichen beginnen.
Deshalb sorgt man sich: Was ist los in der Berliner Volksbühne? Geht ihr die Puste aus, Neues hervorzubringen? Haben die Auswärtsspiele des Intendanten Frank Castorf an der Ruhr und von Christoph Schlingensief in Bayreuth die Kräfte aufgezehrt? Lange musste man in dieser Spielzeit warten, bis sie mit Castorfs „Meine Schneekönigin“ und Schlingensiefs „Kunst und Gemüse“ wieder Stücke in Berlin herausbrachten. Dazwischen enttäuschte Johann Simons, versprochen als neuer Unruhestifter von Format, mit seinem Stück „Zocker“ vor allem, weil es dem bekannten Geist des Hauses so verwandt und deshalb epigonal erschien. Schief lief auch der Plan von René Pollesch, seine Fortsetzungsgeschichten im Prater von anderen Regisseuren inszenieren zu lassen. Eine Inszenierung von Jan Ritsema wurde nach der Premiere abgesetzt, weil Autor und Intendant im Zugriff des Regisseurs kein eigenes Konzept erkennen konnten. Eine Inszenierung des Filmregisseurs Ulrich Seidl, der mit „Vater unser“ sein erstes Theaterstück gemacht hatte, verschwand vom Spielplan auf populistischen Druck, weil dem Theater der Vorwurf, in eine Falle der Religiosität gelaufen zu sein, zu nahe ging. Man reagiert nervös. Das scheinen Symptome für die Schwierigkeit, sich neuen Kräften zu öffnen.
Nun ist es nicht so, dass man in der Volksbühne den eigenen Saft, in dem man schmort, nicht auch in den Ohren zischen hören würde. „Vielleicht haben wir uns etwas selbstgefällig zurückgelehnt“, überlegt Frank Castorf. „Viele gute Gedanken, unterhaltsame, hedonistische, bleiben im Aktenordner und müssten eigentlich aufbereitet werden. Viel wird angerissen, aber wer übersetzt das in die Praxis? Wir müssen eine andere Form der Konzentration, neue Suchtmittel finden.“ Deshalb setzt er große Hoffnungen auf die Dramaturgin Stefanie Carp, die dieses Jahr aus Zürich zur Volksbühne kommt. Ebenso wie Christoph Marthaler, der wieder in Berlin inszenieren will.
Das Dilemma der Volksbühne ist auch eines ihres Erfolges. Viele der Musik- und Politikveranstaltungen, mit denen die Volksbühne der Marginalisierung des Theaters einerseits Rechnung tragen, andererseits aber auch das Theater als Kommunikationsplattform in die Offensive bringen wollte, macht inzwischen fast jedes Theater in Berlin. So hat die Volksbühne durch die Popularisierung ihres Konzepts, an der Kultur und dem Rezeptionsverhalten unterschiedlichen Gruppen anzudocken, einen Teil ihrer Besonderheit eingebüßt. Aber noch nicht den Dreh gefunden, da wieder herauszustechen.
Allerdings ist dies auch eine Perspektive aus dem Berliner Biotop. Das Ensemble der Volksbühne spielt aber längst nicht mehr nur in Berlin. Einladungen nach Sarajevo, Moskau, Paris, Avignon und Santiago de Chile, wo die Volksbühne im Januar mit „Endstation Amerika“ auf einem internationalen Theaterfestival den Schwerpunkt Deutschland vertritt, machen sie zu einem Posten der Außenpolitik. „Wie sind denn diese Deutschen? Wie gehen sie mit sich um?“ Das sind die Fragen, erzählt Castorf, denen sie auf der letzten Reise nach Tel Aviv begegneten. „Natürlich machen wir Theater, natürlich sind das Abbilder der Wirklichkeit in Theaterkunst – aber in der Art und Weise, wie diese Menschen sich zerspielen, sich selbst zur Disposition stellen, ist das auch eine Form, Deutschland darzustellen. Das ist mir sehr wichtig. Es gibt noch viele Gründe zu sagen, traut den Deutschen nicht zu sehr. Doch so, wie wir mit uns ins szenische Gericht gehen, schafft das eine Form, die auch von Vertrauen und der Lust zu kommunizieren zeugt.“
Doch was den Theaterreisen bisher fehlt, ist ein Weg, die Gastspielerfahrung zu Hause weiterzuspinnen. „Dieses Privileg, etwas so Besonderes und vielleicht auch Überflüssiges wie Theaterkunst woanders als in Deutschland vorzustellen, davon fallen zu wenig Produkte ab, die hier wiederum zum Tragen kämen“, sagt Castorf. Sodass die Rolle des Theaters in der Fremde in der Hauptstadt selbst fast nicht wahrgenommen wird.
Manchmal scheint dem Intendanten das Gebäude der Volksbühne auch einfach zu groß und zu festgelegt. „Wir sind ja als Stadttheater, das für seine Grenzverletzungen bekannt ist, vielleicht allzu bekannt“, sagt Castorf, „deshalb liegt ein Wahnsinnsdruck auf Inszenierungen, die immer noch in einer Guckkastenbühne stattfinden, die so erschütternd groß ist, dass adäquate Übersetzungen für diesen Riesenraum sehr schwer zu finden sind. Es ist ein Zweitausend-Mann-Raum, nicht, wie wir es jetzt nutzen, für 800, 950 Leute. Schon immer entstanden in der Volksbühne, seit der Bauzeit 1913/14, wichtige Ergebnisse nur, wenn man alles im Exzess begriffen hat.“
Eine der Strategien, sich dem Diktat der Architektur zu entziehen, war das Bühnenbild der Neustadt, das Bernd Neumann zuerst für die Inszenierung des „Idioten“ gebaut hat. Das Publikum selbst sitzt auf der Drehbühne, auf drei Etagen, und blickt aus unterschiedlichen Perspektiven in die Zimmer der Neustadt. Ihr Ende war schon angesagt, weil nur 250 Leute hineinpassen und der Aufbau aufwändig ist. Castorf aber bestand auf einer Weiterbespielung: „Da musste ich gegenüber einigen Kollegen sehr divenhaft auftreten und darauf bestehen, das weiterzuspielen. Ich habe gesagt, ich bin beleidigt, wenn da die Säge angesetzt wird.“ Zur Rettung der Auslastung aber plant er weitere Großstadtstoffe in der gleichen Kulisse, wie „M – die Stadt sucht einen Mörder“, „Berlin-Alexanderplatz“ und „Emil und die Detektive“ als Nachmittagsprogramm.
Auch intern, weiß Castorf, sehnt man sich nach Entspannung: „Der Gedanke im Haus ist manchmal: Zwölf Jahre permanente Revolution, jetzt reicht uns der Trotzkismus, jetzt wollen wir zur Tagesordnung übergehen. Tagesordnung heißt, ein Schrei der Erleichterung geht durch gewisse Räume, Frank macht endlich den Tartuffe. Aber der Übergang zum normalen Stadttheater wäre für dieses Haus der Tod. Es lebt aus der Überforderung der Kräfte.“
Von der Kulturpolitik wird sein Konzept nicht angetastet. Castorf zollt den bisher wenig erfolgreichen Versuchen des Berliner Kultursenators Thomas Flierl, „das ewige Intendantenkarussell zu durchstoßen“, Respekt und wertet es „als sympathischen Einsatz, Berlin als eine Stadt der Zukunft zu betrachten und nicht nur als Besitzstandswahrung“. Die Diskussion um Ost und West, die sich angesichts des Streits um die Intendanten-Nominierungen von Flierl entfacht hat, findet er bigott: „Hier steht seit Jahren Ost obendrauf und hier ist sehr viel West drin, Nord und Süd. In der jetzigen Diskussion setzt sich die Inkriminierung bei dem, was DDR-Exportschlager waren, Kunst und Sport, fort. Das ist schon bigott, wenn man jetzt auch aus Leuten, die sehr verschiedene Biografien haben, Ostler macht – ich bin kein Ostler, es gibt nicht ein Volk, es gibt sehr verschiedene Ost- wie Westbiografien. Insofern ist das jetzt eine sehr hinterhältige Diskussion. Das hat mich an der DDR schon gestört, die Idee der sozialistischen Menschengemeinschaft, dass wir alle aus einem Fleisch und einem Blut sind.“
Vielleicht ist es auch nur ein Anzeichen der Verwöhnung durch die Vielfalt der Theater in Berlin, mit den Kontinuitäten der Volksbühne unzufrieden zu sein und Angst zu haben, dass von dem Konzept der Überforderung nur noch Erschöpfung bleibt. Hoffentlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch in Berlin jene Erfahrungen sichtbar werden, die das Theater außerhalb macht. Denn bisher ist keine Alternative in Sicht, an die man ähnlich große Erwartungen stellen könnte.