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Archiv-Artikel

Kleine Fahrt ins Weiß

10. und letzter Preis des taz-Schreibwettbewerbs: „On the Road“. Ein Wintermärchen von verschneiten Häfen und Kristallbergen. Fotos von Bananenstauden und Mangroven. Und der Untergang des Philippiners

von BRIGITTE BECKER

Der zweite Tag auf See. Am Horizont verschwimmen die verschneiten Holzhäuschen von Gotland. Abends sollen die ersten Eisschollen kommen, dann das richtige Eis, und irgendwann zwischen Mitternacht und Morgen werden wir im Containerhafen von Helsinki anlegen.

Einer der Philippiner ist auf der Brücke. Er telefoniert in einer fremden Sprache, hin- und hereilend, mit unruhigen Gesten. Er scheint immer wieder unterbrochen zu werden. Schließlich geht er zum Kapitän, redet in holprigem Englisch auf ihn ein und drängt ihn an den Hörer.

Der Kapitän meldet sich, hört eine Weile zu und sagt dann bestimmt: „I am the master of the ship! I can assure you: no girlfriend! Your husband has no girlfriend on board!“

Er muss es mehrmals wiederholen, bis die Ehefrau am anderen Ende der Welt einigermaßen beruhigt ist. – Ist das wirklich ihre Sorge? Hätte ihr Mann nicht mehr Grund, sie mehr Gelegenheit?

Die Philippiner hausen in dürftig eingerichteten Kammern unten im Schiff, je zwei oder drei teilen sich ein Bad. Sie tragen die abgelegte Kleidung der deutschen Offiziere, essen das Essen, das die nicht mehr mögen.

Ein Jahr lang schuften sie an Bord. Sie werfen die Leinen aus und holen sie wieder ein, sie laschen die Container fest und machen sie wieder los, sie putzen, streichen und bessern aus.

Am Morgen liegen wir im vereisten und verschneiten Hafen von Helsinki. Auf dem Kai schmilzt transparenter Schnee. In mehrere Kleidungsschichten eingemummelte Philippiner schaffen mit Farbeimern und Pinseln am Schiff. Einer steht in der Telefonzelle am Ende der Mole und ruft in den Apparat. Mit der freien Hand pickt er die Eisblumen von der Scheibe. Auf das Telefonbuch hat er drei Stoffelche ordentlich nebeneinander gelegt.

Es werden nur 30 Container aufgeladen. Gegen Mittag legen wir wieder ab, in Richtung Kotka, tiefer ins Eis. Hinter Helsinki noch ein schmaler Streifen offene See, dann schwappen die Wellen wieder träger und erstarren schließlich zu großen Kristallbergen, zwischen denen sich vage Schiffsspuren schlängeln.

Die Philippiner laschen die Container an Deck fest. Trotz der beißenden Kälte legt einer sein Werkzeug zur Seite, bleibt stehen und schaut mit einem stillen Lächeln. Kegelrobben! Direkt neben dem Kanal sonnt sich eine Mutter mit ihrem Jungen.

Am Abend ist es dann so weit: Die Spur verliert sich im Dunkel, der fahle Lichtkegel des Scheinwerfers irrt durch die Eiswüste. Das Schiff wird langsamer und langsamer, schließlich steckt es fest in der starren Winterlandschaft. Der Eisbrecher gräbt es wieder frei und pflügt eine neue Rinne. Er wird in dieser Nacht noch mehrmals gerufen.

Sechsundzwanzig Stunden liegen wir in dem abgewirtschafteten kleinen Hafen von Kotka. Die Sonne geht hier früh unter. In der überheizten Mannschaftsmesse drängen sich die Philippiner um den Resopaltisch. Einer zeigt Bilder von zu Hause: Eine schmale Frau vor einem gepflegten Haus unter Fächerpalmen, ein Garten mit Bananenstauden, Ingwer und Hibiskus, drei kleine Mädchen, die zwischen Mangroven im Wasser plantschen.

In der Morgendämmerung legen wir ab. Zwei Tage später fahren wir wieder in das Hamburger Schmuddelwetter hinein. Die Schraube wühlt sich durch das Elbwasser, auch der Ebbstrom ist gegen uns. Hinten am Horizont erscheint verwaschenes Blaugrau. Es ist ein Schiff. Ein großes, schnelles. Es kommt näher.

Und dann ist es neben uns. Eine Wand aus Stahl. Der Kapitän schaut zum Lotsen. Der schweigt. Die Stahlwand kommt näher und näher, es sieht aus, als könne man sie anfassen. Endlich sagt der Lotse etwas: „Scheiße!“, dann schnell hintereinander mehrere Kommandos, zuletzt: „Volle Kraft zurück!“

Stille. Die blaugraue Wand kommt näher. Dann ein Schlag. Und wieder Stille. Unser Schiff neigt sich zur Seite, weit, richtet sich langsam wieder auf. Das blaugraue Schiff verschwindet im Nebel. Wir liegen quer im Strom, neben uns treibt ein Container.

Ein Philippiner stürzt auf die Brücke, blass und außer Atem: „Mr. Moranez is missing!“ Wir fahren zurück. Wir suchen.

Wir suchen irgendein dunkles Pünktchen, irgendwo im eiskalten Strom. Es gibt viele dunkle Pünktchen.

Eins davon ist der Philippiner mit der eifersüchtigen Frau, der, der Souvenirs für seine Töchter kaufte, der, der sich über die Robben freute und der stolz Fotos zeigte. Eins der Pünktchen war Mr. Moranez.