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Archiv-Artikel

Zeuge, lebenslang

Als der 83-Jährige erzählt, wie er freikam, wirkt er gelöst. So, als sei die Gefahr nun gebannt

AUS AUSCHWITZ GABRIELE LESSER

„Leben wollte ich! Ich wollte leben!“ Henryk Mandelbaum steht in den Ruinen des Krematoriums II von Auschwitz-Birkenau. „Hier musste ich arbeiten. Hier habe ich die Leichen verbrannt. Sie waren nackt. Frauen, Kinder, Männer. Ich weiß nicht, wie viele es waren. Tausende? Zehntausende?“

Die Stimme des 83 Jahre alten Mannes klingt fest, als berührte ihn die Erinnerung an das Grauen nicht. Gleichzeitig rinnen ihm die Tränen unablässig aus den Augen. Unwillig wischt er sie immer wieder weg. Mit seinem Spazierstock deutet er auf die eingestürzte Decke des Kellergeschosses und die einstige Gaskammer für 2.000 Menschen. „Die Leute waren müde nach der langen Fahrt im Zug. Sie haben Seife und ein Handtuch mitgenommen. Sie wollten duschen und danach endlich ins Bett und schlafen.“ Wenn die Transporte kamen, floh er immer nach hinten. Er wollte die noch Lebenden nicht sehen. Vielleicht waren Bekannte darunter. „Was hätte ich denen sagen sollen? Ich hätte doch lügen müssen. Und in der Gaskammer hätten sie dann gemerkt, dass ich sie belogen hätte.“

Henryk Mandelbaum hat Auschwitz überlebt, den Aufstand des Sonderkommandos, den Todesmarsch, die Flucht. Doch die Erlebnisse des damals 22-Jährigen haben sein ganzes Leben geprägt. „Ich erzähle die Geschichte. Immer wieder erzähle ich sie. Seit 60 Jahren. Was soll ich denn tun? Ich lebe doch. Und die anderen sind tot.“ Gleich nach dem Krieg, als Zeugen für die anstehenden Prozesse gesucht wurden, habe er sich gemeldet. Immer wieder habe er vor Untersuchungskommissionen ausgesagt.

Die breite Öffentlichkeit wird erst jetzt vom Sonderkommando in Auschwitz und dem einzigen bewaffneten Aufstand im KZ erfahren. In dieser Woche, wenn in Auschwitz und weltweit der Befreiung des Lagers gedacht wird, startet auch der Film „Grauzone“ von Tim Blake Nelson in den deutschen Kinos. Das Buch „Zeugen aus der Todeszone“ von Andreas Kilian und anderen über das Sonderkommando ist gerade neu erschienen. Und ab Mai soll eine Fotoausstellung über das Schicksal Mandelbaums als Häftling des Sonderkommandos in Polen und Deutschland zu sehen sein.

Mandelbaum, noch immer ein großer und kräftiger Mann, geht mit festem Schritt auf eine Lichtung hinaus. „Es ist schön hier, nicht wahr? Die Birken, der weiße Schnee, die Sonne! Im Sommer 1944, es war ein wolkenloser herrlicher Tag, haben wir hier einmal ein Jagdgeschwader über uns gesehen. Wir sahen Bomben herabfallen und hielten den Atem an. ‚Endlich‘, schoss es uns durch den Kopf, ‚endlich die Freiheit.‘“ Am Rand einer Senke bleibt er abrupt stehen und dreht sich um: „Aber es fielen keine Bomben. Es war nur eine Luftspiegelung. Wir waren allein hier in Auschwitz. Ganz allein. Keiner hat uns geholfen. Weder die Alliierten noch die Russen oder die Polen. Niemand.“

Mit seinem Stock zeichnet Mandelbaum ein Quadrat auf den vereisten Boden. Im Sommer 1944 kamen die Züge mit den ungarischen Juden. Über 400.000 Menschen. „Die Krematorien arbeiteten auf Hochtouren, aber es waren zu viele Tote. Da mussten wir sie hier unter freiem Himmel im Viereck aufstapeln und verbrennen. Ich war Leichenschlepper und Brennmeister.“ Seine Stimme, bisher fest und beherrscht, sinkt auf ein Wispern herab: „Als ich meine erste Leiche zum Verbrennen schleppen sollte, habe ich nach dem Arm der Toten gegriffen, aber es blieb nur ihre Haut in meiner Hand hängen. Die Tote lag schon ein paar Tage da und war halb verwest.“ Andere im Sonderkommando hätten Selbstmord begangen. Fast alle hätten ihren Glauben verloren. Viele hätten sich mit Alkohol betäubt. „Ich aber wollte nur eins: leben. Ich wollte leben!“

Der Aufstand in Auschwitz-Birkenau war lange geplant. Eigentlich wollten die Männer des jüdischen Sonderkommandos gemeinsam mit den beiden Widerstandsbewegungen im drei Kilometer entfernten Stammlager Auschwitz I losschlagen. Die Deutschen hatten in Stalingrad eine entscheidende Niederlage erlitten, die Rote Armee rückte immer näher, in Polens Hauptstadt brach der Warschauer Aufstand los. Doch die Hoffnung, dass sich diesem Aufstand die Widerstandsbewegung in Schlesien anschließen und das KZ Auschwitz befreien würde, brach schon bald in sich zusammen.

Die Russen, die auf ihrem Vormarsch bereits das Todeslager Majdanek bei Lublin befreit hatten, blieben vor Warschau an der anderen Weichselseite stehen. Während in den Kämpfen mit den Deutschen 200.000 Polen verbluteten, lief die Todesmaschinerie in Auschwitz noch einmal auf Hochtouren. Zwar zerstörten amerikanische Bomber im Herbst 1944 gezielt die Buna-Anlagen in Auschwitz-Monowitz und legten damit die Produktion synthetischen Gummis und Benzins lahm, doch auf das Todeslager in Auschwitz-Birkenau fielen nur zwei ungezielt abgeworfene Bomben. Die polnische Widerstandsbewegung wiederum setzte auf Zeit. Anders als den jüdischen Häftlingen drohte den Polen nicht die Gaskammer. Je länger sie durchhielten, umso größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie überlebten.

„Als in Krematorium III der Aufstand losbrach, habe ich hier in der Grube Knochen gesiebt und die größeren Teile klein gestoßen.“ Die SS hatte eine Selektion angekündigt. Angeblich sollten Sonderkommandohäftlinge in ein anderes Lager gebracht werden. Aber allen war klar, dass dies den sicheren Tod bedeutete. Einer der Häftlinge griff einen SS-Mann an, die anderen stürzten sich mit Messern und Beilen auf die Wachen, wieder andere zündeten die Gaskammer und das Krematorium III an.

Mandelbaum sieht von der Lichtung zum schneeverwehten Ziegelhaufen, dem einstigen Krematorium III, und geht ein paar Schritte auf ihn zu. „Alles brannte lichterloh. Aber jemand musste den Aufstand verraten haben. Es starben nur ein paar SS-Männer, aber fast alle Aufständischen. Später mussten sich alle aus dem Sonderkommando auf den Boden legen, und jeder dritte wurde erschossen.“

Sie sahen Flugzeuge, die Bomben abwarfen. Endlich, dachten sie. Es war eine Luftspiegelung

Als die SS im Januar 1945 das Lager endgültig auflöste und rund 60.000 Häftlinge auf Todesmärsche Richtung Groß-Rosen und Mauthausen trieb, war Mandelbaum klar, dass ihn nur noch die Flucht vor dem Tod retten konnte. Die Sonderkommandohäftlinge waren die einzigen unmittelbaren Zeugen der Vernichtungsmaschinerie, denn sie hatten in den Gaskammern und Krematorien gearbeitet, den Toten die Haare abgeschnitten, die Goldzähne gerissen, die Kleidung eingesammelt und die Leichen verbrannt. Die anderen Häftlinge hatten nur den Rauch gesehen, der aus den Schornsteinen kam.

„Ich habe mir Zivilkleidung besorgt und sie unter dem Häftlingsanzug getragen. Dann bin ich mit den anderen in der Kolonne marschiert. In Jastrzebia-Zdroj konnte ich mich mit ein paar Schritten unter die gaffenden Leute mischen, die am Straßenrand standen. Von der SS hat niemand etwas gemerkt. Und es hat mich niemand verraten.“ Der 83-Jährige atmet tief durch. Sein Gesicht wirkt plötzlich gelöst. So, als sei die schlimmste Gefahr nun gebannt. Als werde ihm wieder klar: „Ich habe überlebt. Ich habe tatsächlich überlebt.“

Ein Zuhause, in das Mandelbaum hätte zurückkehren können, gab es allerdings nicht mehr. Die Eltern und Geschwister, die er 1943 zum letzten Mal gesehen hatte, blieben verschollen. Der 23-Jährige hatte keinen Beruf und nicht einmal eine solide Schulausbildung. In Gliwice (Gleiwitz), wo er seit seiner Hochzeit mit einer Deutschen Ende der 60er-Jahre wohnt, erzählt er, wie er Kohlen, Glas und Papier sammelte, wie er den Bauern bei der Ernte half. Sein Vater war Fleischer, sie hatten genug zu essen, waren aber arm. Etwas mehr Geld kam erst in die Kasse, als er in den Steinbruch ging. „Ich war stark, bekam richtig dicke Muskeln und einen breiten Rücken. Nie hat es jemand gewagt, mich zu beleidigen. Und wenn doch, hatte er sofort meine Faust im Gesicht.“

Nach dem Krieg heuerte Mandelbaum als erstes bei der Polizei an. Als er jedoch Bankräuber und Mörder jagen sollte, quittierte er den Dienst: „Ich hatte doch nicht Auschwitz überlebt, um mich dann von einem Banditen erschießen zu lassen.“ Er versuchte sich als Züchter, zunächst von deutschen Schäferhunden, schließlich von Füchsen. Am Ende machte er sich mit einem Taxiunternehmen selbstständig. Ende der 60er-Jahre heiratete er dann Lydia, die deutsche Gleiwitzerin, die 1945 ihr Elternhaus nicht verlassen, sondern in Polen und dem nunmehr polnischen Gliwice bleiben wollte.

In seiner Wohnung stehen im Schrank, auf kleinen Tischchen und dem Fernseher hunderte weißer Porzellanfigürchen. „Die ersten habe ich für den Erlös von altem Papier gekauft. Die Figürchen sind lustig. Wenn ich traurig bin, bringen sie mich auf andere Gedanken.“ Auf dem Sofa, das nachts in ein Bett verwandelt wird, sitzen über 20 Teddybären und Kuscheltiere. „Teddys kann man sogar im Kilo kaufen“, meint Mandelbaum. „Große und kleine. Diese Leidenschaft für Teddys, die habe ich wohl von meiner Mutter.“