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Archiv-Artikel

Klinik für Illegale

SOLIDARITÄT Ärztenetzwerk in Washington

Niemand sonst hätte ihr, der illegalen, mittellosen Mexikanerin, einen regulären Arztbesuch bezahlen können

AUS WASHINGTON ADRIENNE WOLTERSDORF

Unter all den altenglischen Stadthäusern fällt „La Clinica“ sofort auf: Mit ihrer türkisblau gekachelten Fassade ist die Einrichtung ein farbenfroher und sicherer Hafen im tückischen Meer des Migrantendaseins. Des illegalen Daseins, wohlgemerkt.

Die Klinik wurde 1982 mitten im Latinoviertel der US-Hauptstadt gegründet. Damals tobte in El Salvador ein blutiger Bürgerkrieg. Einige junge US-Ärzte fanden es unerträglich, dass tausende geflüchteter Salvadorianer, die dem Gemetzel in der Heimat entkommen waren, im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ nicht einmal zum Arzt gehen konnten.

„Si, no hay problema“, sagt eine der Latinas an der Rezeption der Klinik ins Telefon. Wie jeden Vormittag sitzt ein halbes Dutzend Patienten im gemütlichen knallroten Wartesaal. Auch Paola Vasquez ist heute zur Nachuntersuchung hier. Die 55-jährige stämmige Mexikanerin kam vor sechs Jahren aus Oaxaca im Süden Mexikos nach Washington, ohne Visum, wie die meisten hier. Die Grundschullehrerin hatte sehnlichst auf Arbeit gehofft, um ihre Familie zu ernähren. Die Ärzte zu Hause in Oaxaca hatten zu dem Knoten in ihrer Brust nur gesagt, das sei nichts Schlimmes. „Vielleicht wussten sie es nicht besser“, sagt Vasquez.

Doch kaum war sie in Washington angekommen, wurden ihre Schmerzen unerträglich. Ihr Bruder, der schon lange in den USA lebt, brachte Paola gleich zur Clinica, denn niemand hätte ihr, der illegalen, mittellosen Mexikanerin, einen regulären Arztbesuch bezahlen können. „Ohne die Leute von der Clinica wäre ich längst tot“, sagt Vasquez.

In ihrem Falle konnte die Clinica, die kleinere Operationen selbst durchführt, gerade noch helfen. Durch ein Netzwerk von ehrenamtlich arbeitenden US-Ärzten organisierte die Clinica für die Krebskranke eine Notoperation, die ihr das Leben rettete. Alicia Wilson, eine der Ärztinnen, schaffte es sogar, für die Migrantin ohne Papiere eine Minimalversicherung zu organisieren, die nun für ihre Nachbehandlung aufkommt.

Vasquez weint und lacht und sagt immer wieder: „Sie müssen der Welt von der Clinica erzählen, das sind Engel hier, die haben mich nicht fallen lassen.“ Wilson verdient wie ihre neun Kollegen weit weniger als das übliche Klinikgehalt für US-Ärzte, aber sie erklärt: „Ich empfinde hier eine viel größere Befriedigung“. Längst habe das Clinica-Team interkulturelle Kompetenz im Umgang mit Latinopatienten erlangt. „Man muss nicht nur fließend Spanisch sprechen können. Wir müssen auch verstehen, dass unsere Patienten oft nur eine sehr geringe Bildung haben und sich deshalb davor fürchten, zum Arzt zu gehen. Sie kommen daher meist erst dann, wenn nichts mehr geht. Und sie sind sehr, sehr arm.“ Und fast immer unversichert.

„Das US-Gesundheitssystem ist sehr ungerecht, es ist nur für Reiche gemacht“, erklärt Wilson. In den USA sind Krankenversicherungen an den Job gekoppelt. Doch ungebildete Migranten bekommen nur schlechte Jobs. Häufig müssen sie auch schwarzarbeiten. Finanziell sind nur sehr wenige von ihnen in der Lage, sich privat zu versichern, wie es die Konservativen im Land fordern. Denn jeden Cent schicken sie an ihre Familien in die armen mexikanischen Provinzen.

La Clinica finanzierte sich fast 25 Jahre lang nur aus Spenden und Fördermitteln privater Stiftungen. Als das immer schwieriger wurde, entschloss sich das Ärztekollektiv, erstmals auch Regierungsgelder zu beantragen.

Seit Kurzem erhält die Clinica Mittel der Regierung in Washington. „In den politischen Debatten spielen die rund zwölf Millionen Illegalen, die im Land leben, keine Rolle. Das Thema ist zu explosiv, das wird sich auch mit US-Präsident Obama nicht grundsätzlich ändern“, glaubt Alicia Wilson, die für Obama gestimmt hat. „Es ist ein langer Weg, und ich bin mir nicht sicher, ob es Obama gelingen wird, ein gerechteres Gesundheitssystem zu schaffen.“