: Freiwillig in den Knast
Ein Rentnerpärchen geht in Gefängnisse wie die JVA Dortmund und kümmert sich um Gefangene. In Gesprächen sollen den Häftlingen Werte vermittelt werden, die im Knast schon mal verloren gehen
AUS DORTMUNDSVEN SCHNEIDER
Wohl fühlt sich im Gefängnis niemand. Hinein will in der Regel keiner und wer bereits drin ist, kommt so schnell nicht wieder raus. Sieglinde Grosch (67) ist ein Sonderfall, die vielzitierte Ausnahme der Regel. Mehrmals monatlich geht sie mit ihrem Mann Wilhelm (67) ins Gefängnis: freiwillig.
Schwach fällt das Tageslicht durch die vergitterten Glasbausteine auf den nackten Steinboden. Die kahlen gelben Wände werden nur durch die Einbuchtungen der massiven Zellentüren unterbrochen, die sich bis zum Flurende aneinanderreihen. Die Groschs wirken in dieser Ödnis wie bunte Farbkleckse in einer grauen Welt, als sie den Flur zum Schulungsraum entlang schreiten. Zwischen Dieben und Vergewaltigern üben die Rentner aus Holzwickede ein Ehrenamt aus, das nur wenige kennen: Sie gehen in Gefängnisse wie die Justizvollzugsanstalt (JVA) Dortmund und kümmern sich um Gefangene. In Einzel- oder Gruppengesprächen vermitteln sie den Häftlingen Werte, die während der Haft verloren gehen: Vertrauen, Freundschaft und der Glaube an die Gesellschaft.
„Fehlen diese Werte“, sagt Sieglinde Grosch, „scheitern viele Häftlinge nach ihrer Entlassung bei dem Versuch, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern.“ Sie sieht die Gründe in der Strafe selbst. „Viele kommen mit den Bedingungen der Haft nicht zurecht“, sagt sie, als sie dem Wärter zum Schulungsraum folgt, in dem sie mit den Häftlingen zum Gespräch zusammentrifft. „Ihre Familien und Freunde wenden sich von ihnen ab. Sie isolieren sich und wenn sie rauskommen, wartet auf die meisten nichts außer Arbeitslosigkeit und Ablehnung. Kein Wunder, dass da viele wieder in den Sog der Kriminalität geraten und geradewegs wieder ins Gefängnis einwandern.“
Deswegen nimmt das Rentnerpärchen die Resozialisierung, das Ziel einer jeden Haftstrafe, in die eigenen Hände. Keine leichte Aufgabe, da die Inhaftierten einen menschlichen und zwanglosen Umgang nicht mehr gewöhnt sind. Der Alltag im Gefängnis prägt, es herrscht ein rauer Ton und Misstrauen ist an der Tagesordnung. Bei Sieglinde und Wilhelm Grosch hingegen kann jeder so sein, wie er möchte. Sie fragen nicht nach begangenen Verbrechen, sondern behandeln jeden ihrer „Jungs“, wie sie die Häftlinge liebevoll nennen, gleich. Sie verlangen nur Ehrlichkeit und wenn es mal ein wenig länger dauert, bis sich der ein oder andere öffnet, haben sie die nötige Zeit und Geduld.
Die Justizvollzugsbeamten in der Anstalt begrüßen die Arbeit des Rentnerpärchens. „Während der Haft stauen sich bei vielen Häftlingen Depressionen und Frust auf“, sagt Rainer Faber, Freizeitkoordinator der JVA Dortmund. „Die Ehrenamtlichen nehmen jede Menge Zündstoff raus.“
Die Groschs sind nicht die einzigen, die über die Straffälligenhilfe ihren persönlichen Beitrag zur Resozialisierung leisten. Allein in Nordrhein- Westfalen sind nach Angaben des Justizministeriums rund 1.800 freiwillige Helfer im Einsatz, die sich ehrenamtlich um die über 18.000 Gefangenen kümmern. Vereine wie das Kölner „Projekt Lotse“, welches auch die Groschs vermittelte, organisieren für interessierte Sträflinge Brief- und Besuchskontakte mit der Außenwelt, juristische Hilfestellung für die Zeit während und nach der Haft oder einfach nur ein offenes Ohr. Manchmal mit Erfolg. „Bei vielen Häftlingen kann man sehen, wie sie sich durch die Sitzungen verändern“, sagt Sieglinde Grosch, als sie im Schulungsraum des obersten Zellentraktes auf ihre „Jungs“ wartet. Wie zum Beweis umarmen die eintretenden Gefangenen ihre Betreuer. „Sieglinde und Willi sind für uns eine Art Familie“, sagt Nabil (35), der seit zwei Jahren der Gruppe angehört. „Wir können uns natürlich benehmen und sie sind einfach nur ehrlich zu uns. Im Knast ist das selten.“ Der Libanese hat nach eigenen Angaben in dieser Zeit zu sich selbst gefunden. Wenn er rauskommt, will er ein neues Leben beginnen. Sieglinde Grosch glaubt, dass er und die anderen es schaffen können. „Sie erkennen ihre Schuld an und entwickeln eine Bereitschaft, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Täterarbeit ist auch Opferschutz.“