piwik no script img

Cooking for Cannibals

SERVICE FÜR SELBSTVERSPEISER Mehr Vergnügen am eigenen Körper

„Betroffene berichten von einem Gefühl der Befriedigung, wenn sie an sich nagen“

„Der da ist aber ein lecker Schnittchen!“, hört man Menschen sagen und denkt sich nichts dabei. Ein harmloses Wortspiel, wie es Dutzende im deutschen Sprachgebrauch gibt: „armes Würstchen“, „Sahnetorte“, „Schnitzelchen“ oder auch „von dem könntest du dir noch eine Scheibe abschneiden“. Kaum einer denkt, dass aus solchen scherzhaften kulinarischen Anspielungen Ernst werden könnte – oder dass man sich gar selbst als schmackhafte Mahlzeit sehen könnte. Dennoch gibt es dies: in Form des sogenannten Autokannibalismus, bei dem die Betroffenen den abnormen Drang entwickeln, sich selbst zu verspeisen.

Nicht selten endet dies tragisch: So soll etwa ein Schweizer Ehepaar vor einigen Wochen bei dem Versuch, sich selbst mit Käse zu überbacken, beinahe erstickt sein. Und auch wenn drastische Meldungen wie diese nur vereinzelt den Weg in die Medien finden, führen sie doch vor Augen, welche kuriosen Formen diese Psychose annehmen kann.

Mit solchen verunglückten Selbstversuchen will einer nun Schluss machen: Luigi Mangare aus Turin. Er hat mit „Cooking for Cannibals“ das erste Selbstverspeiser-Kochbuch herausgebracht und möchte damit Autokannibalen ein abwechslungsreicheres Ausleben ihrer Leidenschaft ermöglichen – ohne unnötige Risiken. Außerdem will er damit dem Phänomen, das bereits weit verbreitet sei, mehr Aufmerksamkeit verschaffen.

Dennoch hat er das Buch nicht uneigennützig geschrieben. „Beim Blick in den Spiegel überkam mich immer so ein Heißhunger“, erzählt Luigi, „und wenn ich auf meine Finger hinuntersah, erkannte ich darin nur noch leckere Cannelloni mit Fleischfüllung. Zum Reinbeißen!“ Ein Verlangen, das er manchmal nur schwer im Zaum halten konnte. Auch dabei soll das Buch helfen. Auf der ersten Seite steht in großen Lettern: „Dieses Buch fordert ausdrücklich nicht dazu auf, andere Menschen zu verletzten oder zu schädigen. Es wurde geschrieben, um Autokannibalen Anregungen zu geben, wie sie sich auf angenehme Weise an sich selbst nähren können, ohne Schaden zu nehmen.“ Er rät daher eindringlich, sich klarzumachen: „Der Körper ist ein nachwachsender Rohstoff, Sie sollten immer nur so viel entnehmen, wie problemlos regeneriert werden kann. Viele Organe des menschlichen Körpers können gar nicht nachwachsen (unter anderem Augen, Herz, Lunge oder Hirn). Vermeiden Sie den Verzehr dieser lebenswichtigen Organe.“

Dass er mit seinem Buch gerade voll im Trend liegt, zeigt eine kürzlich in der medizinischen Fachzeitschrift modern abnormities vorgestellte Studie zum Autokannibalismus. Das schwedische Wissenschaftlerteam um Professor Lasse Måltidson hat hierfür weltweit mehr als 43.000 ungewöhnliche Todesfälle der letzten zehn Jahre ausgewertet und auf Anzeichen von Autokannibalismus untersucht. Mit dem ganz klaren Ergebnis: Tendenz stark steigend. Die Forscher förderten während ihrer Untersuchungen auch allerhand Unappetitliches zutage. Professor Måltidson möchte dies zwar nicht näher ausführen, fasst aber zusammen: „Man braucht schon einen starken Magen, wenn man auf diesem Gebiet forschen möchte.“ Erste Anzeichen der Störung seien nach seiner Erfahrung meist harmloses Fingernägelkauen oder Daumenlutschen. Manche tunkten immer wieder unbewusst ihre Finger in Dips und Soßen und lecken sie anschließend ab. Wenn sich dann die Psychose vollends entwickelt, fingen die Betroffenen an, kleine Stücke von sich abzuschneiden und zu verschlingen. Auch den verheerenden Hang, den Autokannibalismus bis zum Äußersten zu treiben, bestätigt Professor Måltidson: „Viele Betroffene berichten von einem unbeschreiblichen Gefühl der Befriedigung, wenn sie an sich nagen.“ Die Autokannibalen müssten sich regelrecht zwingen, „normale“ Nahrung zu sich zu nehmen. Viele schaffen das nicht, wie die Studie belegt. Die Ursachen der Störung sind, genau wie geeignete Therapiemethoden, noch nicht vollständig erforscht, sollen aber Gegenstand der nächsten Untersuchungen des Wissenschaftlerteams sein.

Bis dahin kann Luigi mit seinem Kochbuch weiterhelfen. Das Buch begleitet in den einzelnen Kapiteln dazu exakt den Krankheitsverlauf. Der Essener Verlag, in dem das 236 Seiten starke, reich bebilderte Werk erschienen ist, berichtet von einem glänzenden Verkaufsstart. „Es geht weg wie warme Semmeln“, sagte ein Pressesprecher. Doch ganz so verwunderlich erscheint das nicht. In Zeiten der Schweine-, Iltis- und Anchovis-Grippe ist die Selbstverspeisung vielleicht wirklich eine massentaugliche Alternative geworden. Denn, wer will schon ernsthaft Vegetarier werden?

MICHAEL GÜCKEL

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen