: Die Diva in mir ist der Kumpel in dir
Bereit für die nächsten 20 Jahre: R.E.M. gaben in Berlin ein fast schon perfektes Konsenskonzert für die Konsensgesellschaft
VON GERRIT BARTELS
Es will nicht wirklich zu diesem Abend passen, zu einem Wohlfühlkonzert dieser Größenordnung und vor allem zu diesem sehr auf Kuschelhits lauernden Publikum, das schon bei der Vorband The Thrills seinen unbedingten Willen zum Schunkeln, Schaukeln und Mitklatschen zeigt: R.E.M. spielen Protestsongs. Oder zumindest Songs, die sie als solche verstehen, die zu ihrem Selbstverständnis als irgendwie politische Band gehören, schließlich waren R.E.M. vor den US-Wahlen mit Bruce Springsteen auf „Vote For Change“-Tour, um Stimmen für John Kerry zu sammeln.
Zwei Stück sind es, die Stipe angekündigt als „unseren Protest gegen die Regierung der Vereinigten Staaten“, was er auch gestisch unterstreicht, in dem er sich entschlossenen Blicks die Ärmel seines Hemdes hochkrempelt. Dazu blinkt es im Hintergrund wild in den Farben der Stars und Stripes, blau, weiß und rot, und über die Leinwand beginnen mit den ersten Takten die Lyrics zu flimmern: eine Einladung zum Mitsingen, zur politischen Demonstration. Berlin und R.E.M. gegen Bush.
Nur lässt sich dieser Einladung, trotz guten Willens seitens des Publikums, schwer Folge leisten, denn „Final Straw“ und „I Wanted To Be Wrong“, beides Songs vom neuen, von der Kritik als zu flauschig und sentimental gerupften, aber eigentlich sehr hübschen R.E.M.-Album „Around The Sun“, kommen ohne explizite Lyrics aus und sind intellektuell alles andere als leicht zu durchdringen: „I told you I wanted to be wrong, but everyone is humming a song, that I don’t understand.“ So in der Art, der schon etwas weniger kryptischen. Michael Stipe ist eben ein Meister der Schwurbellyrik, und da macht er keinen Unterschied zwischen Liebesliedern oder vermeintlich politischen Liedern. So darf man wohl auch die Augenbinde, die er sich für das Konzert ins Gesicht gemalt hat, verstehen, wie man will: als Ausdruck grimmiger Entschlossenheit, als Referenz an die Panzerknacker oder Fantomas (wahlweise Donald), als bloßen nichts sagenden Quatsch.
Überzeugender ist Stipe im ausverkauften Berliner Velodrom, wenn er sich als global agierender Vorsteher einer global agierenden Band gibt, was beides ja tatsächlich zutrifft, und erzählt, wie er mal schnell zwischen Marseille, Berlin und Kioto einen Song wie „High Speed Train“ geschrieben hat. Oder wenn er sich gerade als ein der Liebe und dem Leben zugewandter Musiker zeigt. Da ermahnt er seine Fans, bewusster zu leben, das Leben nicht einfach zu verschleudern, und widmet ihnen dann große R.E.M.-Hits wie „Leaving New York“ oder „Losing My Religion“ als Liebeserklärungen.
Darauf muss das Publikum allerdings lange warten. Denn dieses Konzert von R.E.M., das im Übrigen einen exzellenten Sound hat, ist ein fast stacheliges, dunkles und abwechslungsreiches Rockkonzert, das auch Mike Mills und Peter Buck als filigrane Saitenarbeiter an Bass und Gitarre zeigt. Die erste halbe Stunde kommen R.E.M. praktisch ohne wirklichen Hit und auch ohne Ballade aus, später streuen sie sogar ältere und einigermaßen zornige Songs wie „Orange Crush“ und „The One I Love“ ein, und nur selten gleitet das Ganze ins allzu Diffuse, Sämige und Behäbige.
Vielleicht liegt diese Betonung auf Rock an der von Peter Buck engagierten und aus Irland stammenden Vorband The Thrills. Diese hatte vorher einen tatsächlich schönen Gig voller Sonnenschein und blumigen Melodien gespielt, einen Gig, in dem sich gekonnt Beach-Boys-Anklänge und jugendliche Unbekümmertheit mischten und die Thrills-Mini-Hits wie „Big Sur“ und „Santa Cruz“ für erste gute Laune im bis dahin schon vollständig gefüllten Rund sorgten.
Insofern dürften sich dann nicht wenige ob des furiosen Beginns von R.E.M gewundert haben. Doch ist es genau das, was die Qualitäten der Band noch immer ausmacht: Erwartungen zumindest in Ansätzen zu unterlaufen, den Alt-Fan aus den Achtzigerjahren, als R.E.M. noch eine kleine College- und Folkrockband waren, mit dem Hits-der-Neunziger-und-Nuller-Jahre-104.6.-Publikum zu versöhnen, zu demonstrieren, dass man ein eher dunkles Lied wie „Drive“ problemlos als erste Zugabe spielen kann, ohne auf „Man On The Moon“ zu verzichten. R.E.M. sind zwar eine Band in der Größenordnung von U2, eine die mit „Imitation of Life“ auch in Japan einen ersten Nummer-eins-Hit hatte, wie Stipe an diesem Abend zu scherzen beliebt. Sie weiß aber auch noch ein Gebaren an den Tag zu legen, das eher einer Band aus dem Pub von nebenan gleicht: nur ein bisschen daneben, nur ein bisschen über dem Strich und immer schön kumpelig – zumindest die bodenständig-gemütlichen Mike Mills und Peter Buck mit ihren Bäuchen, Blümchenhemden und spröde wehenden Haaren gleichen das schlichte Diven-Getue von Michael Stipe locker aus.
Die Kunst von R.E.M. besteht darin, das sieht man im Velodrom wieder einmal deutlich, einerseits überzeugend zu vermitteln, dass man mehr als nur eine erfolgreiche Rock-’n’-Roll-Band ist: eine genauso charismatische wie politische Band, eine, die noch immer Verweigerungshaltungen zu artikulieren und Sehnsüchte nach einem besseren Leben zu wecken in der Lage ist. Und die andererseits einen den jeweiligen Jahreszeiten angemessenen Weichspüler nach dem anderen produziert. R.E.M sind die führende Konsensrockband für die Konsensgesellschaft. Eine Band, mit deren Protestpotenzial sich einfach und gut leben lässt und die nichts falsch macht. Das kann zu Gleichgültigkeit ihr gegenüber führen, stellt aber eine gute Lebens- und Überlebensversicherung dar. Zwanzig weitere Jahre schaffen R.E.M. so noch locker.