Im Transitbereich

Wer Charlottenburg – und Berlin – so schnell wie möglich entfliehen will, sollte den Bus X9 zum Flughafen Tegel nehmen – vorbei an einem Reigen architektonischer Sünden der Nachkriegszeit

Seit Eröffnung des Flughafens Tegel 1975 gab es vom Zoo einen Zubringerverkehr

VON ANNETT GRÖSCHNER

Der Platz vor dem Bahnhof Zoo muss für empfindliche Menschen eine Zumutung sein. Es ist laut und dreckig, vertrocknete Kotze klebt in den Winkeln der Haltestellenhäuschen, Tauben verschiedenster Form und Farbe balgen sich um ein paar Krümel Fastfood, ein Mülleimer hat dem Druck seines Inhalts nachgegeben. Der Müll liegt auf dem Gehsteig verteilt. Gegenüber weist eine Giraffe auf den Zooeingang hin. „Ist das ein Tierpark nur für Giraffen?“, fragt ein Kind. Jede Minute hält ein Bus und fädelt sich nach dem Abfahrtssignal in den Freitagabendverkehr ein.

Ein offensichtlich verwirrter Mann grüßt alle Anwesenden, eine Frau verteilt Werbematerial, das niemand haben will, ein Mann mit einer Eisteetüte im Arm und einer schlecht verarzteten Wunde am Kopf geht von einem zum anderen Wartenden: „Entschuldigen Sie, mein Portemonnaie wurde gestohlen. Ich muss dringend nach Hause telefonieren“, oder was man so sagt, wenn man es mit Touristen zu tun hat und Geld braucht. Wer unter den vielen Leuten Tourist ist, sieht der junge Mann sofort. Besonders Position 1 der Bushaltestelle Zoologischer Garten hat es ihm angetan, denn da stehen die Leute mit den Rollkoffern und warten auf den Bus X9 zum Flughafen Tegel. Manche der Wartenden sind zum Einkaufen mal kurz nach Berlin geflogen, und jetzt, am Freitagabend, geht es zurück in irgendeine Stadt Europas, die einen Flughafenanschluss hat. Geschäftsreisende erkennt man an der gedeckten Farbe ihrer Mäntel. Seit dieser Woche sind es die dünneren.

Der Hardenbergplatz vor dem Bahnhof Zoo liegt am östlichsten Ende von Charlottenburg, östlicher steht nur noch die Gedächtniskirche. Seit Eröffnung des Flughafens Tegel 1975 gab es vom Bahnhof Zoo einen Zubringerverkehr, anfangs eine Sonderlinie mit erhöhtem Tarif. Aber die Entwicklung des Flugverkehrs zum Massenbetrieb erforderte eine reguläre Linie. Einen Rest von Exklusivität konnten sich die Flughafenlinien 8 und 9 bewahren, denn sie hatten einen eigenen Wagenpark mit blauen Omnibussen, die ab 1986 mit der Aufschrift vom AIRPORT zur CITY warben. Die alte City West mit dem Kurfürstendamm mit Bahnanschluss nach Westdeutschland gehörte zum Bezirk Charlottenburg, der bis 1920 eigenes Stadtrecht besaß.

1988 brauchte der Flughafenbus für 13,1 Kilometer 39 Minuten. Heute heißt der Bus X9 und schafft die Strecke dank Busspur in 20 Minuten, abends in 15. Der Gesetzgeber verlang, dass jedes Fahrzeug vorn ein Zielschild und an der rechten Längsseite ein Streckenschild tragen muss. Wie es mit den Fenstern aussieht, ist der BVG herzlich egal. Der Flughafenbus, der nun endlich eintrifft und neben den vielen Rollkoffern auch den Mann mit Kopfwunde und Eistee aufnimmt, schließt die Hälfte der Fahrgäste von der Sicht auf Berlin aus, denn die Scheiben werden großflächig von einer Fluglinienreklame überdeckt. Wie unsensibel. Auch wenn man nicht behaupten kann, dass die Fahrt nach Tegel ein architektonischer Genuss ist. Sie zeigt eher sämtliche Sünden der Nachkriegszeit: Autobahnschneisen, Kraftwerke und Wohnbauten in Schachtelform – aber es könnte doch für den ein oder anderen Reisenden ein Abschied für immer sein.

Der Mann mit dem Eistee und der Kopfwunde sagt zum Busfahrer: „Endlich mal raus aus Berlin, ist ja nicht schade drum.“ Der Busfahrer lächelt, er scheint ihn zu kennen. Es geht zügig die Hardenbergstraße hinunter, vorbei an der Universität der Künste. Erster Halt ist am Ernst-Reuter-Platz. Der Platz für Rollkoffer wird knapp. Auf dem Stadtplan macht der Straßenverlauf zwischen Hardenbergstraße und Otto-Suhr-Allee einen Knick: Bis 1953 hieß die Kreuzung, auf der sich fünf Hauptverkehrsstraßen treffen, Am Knie, kurz Knie genannt. Heute heißt der Platz nach einer der schillerndsten Figuren der Berliner Politik, Ernst Reuter, und ist, man mag es kaum glauben, ein Gartendenkmal. Dabei gibt es auf dem mit 180 Meter Durchmesser größten Platz Berlins so gut wie kein Grün, sieht man von den Stiefmütterchen in der Mitte ab, die wohl zu den feinstaubbelastetsten Lebewesen Berlins gehören dürften.

Bis 1830 hieß der Platz Umschweif. Ohne Umschweife biegt der Bus in die Otto-Suhr-Allee, lässt Richard-Wagner-Platz und Rathaus rechts liegen und hält erst wieder in der völlig unbedeutenden Quedlinburger Straße, was die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Charlottenburg-Wilmersdorf veranlasste, 2004 mit Nachdruck von der BVG eine zusätzliche Haltestelle am Richard-Wagner-Platz zu fordern. Die BVG antwortete am 7. Juni 2004: „Die Einrichtung einer zusätzlichen Haltestelle am U-Bahnhof Richard-Wagner-Platz würde den Reisezeitvorteil des X9 auf der Relation City–Flughafen Tegel vermindern und somit den Zielsetzungen des BVG-Produkts ‚ExpressBus‘ entgegenwirken.“

Der Bus hält am Richard-Wagner-Platz immer noch nur an der roten Ampel. Die beiden Berlinerinnen, die sich ein Wochenende in Düsseldorf erholen wollen, bewundern die Jugendstilornamente der Fassade des Rathauses. „Det is ’n Riesenklotz, wa?“ „Unsert is nich so groß.“ Dass die Stadt Charlottenburg, die am 5. April 1705 auf Befehl des Königs Friedrich I. zu Ehren seiner verstorbenen Gattin Sophie Charlotte benannt wurde, irgendwann mit Berlin verschmelzen musste, war spätestens mit dem Hobrecht’schen Bebauungsplan 1862 klar, der auch Charlottenburg einschloss. Wahrscheinlich ist deshalb das Rathaus, das zwischen 1899 und 1905 im Jugendstil errichtet wurde, so groß und klotzig geraten, als hätte der Auftraggeber ein „Jetzt erst recht“ in den Charlottenburger Himmel geschrieben.

Der Turm trat mit 89 Metern in direkte Konkurrenz mit der Kuppel des Charlottenburger Schlosses, die in der Sichtachse liegt. Auf der einen Seite Bürgertum gegen Adel, auf der anderen Seite Charlottenburg gegen Berlin. Das konnte nicht gut ausgehen. Dem bürgerlicher Protz folgte 15 Jahre später, 1920, die Eingemeindung in Berlin – nicht umgekehrt.

Die Otto-Suhr-Allee, die bis 1957 Berliner Straße hieß, war Teil der Achse, die das Charlottenburger Schloss mit dem Berliner Schloss verband. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts machten sich Adel und gehobenes Bürgertum auf, mit Sack und Pack in die Sommerhäuser Charlottenburgs umzuziehen. Der Berliner Publizist Emil Dominik schrieb 1883: „Wir fuhren vom Brandenburger Thore mit der Pferdebahn nach dem freundnachbarlichen Charlottenburg und in dieser bald zweihundert Jahre alten Stadt durch die Berliner Straße.“ Und was plauderten die Reisenden? „Seit Camille A. Faures Entdeckung ist die Konstruktion der ‚Luftdroschke‘ nur eine Frage der Zeit“.

Der Weg des Busses geht, die Spree überquerend, weiter in Richtung Luftdroschke, vorbei an zwei Einrichtungen, die die Autarkie Westberlins gegen den umliegenden Feind sicherten: das Kraftwerk Charlottenburg und das Gaswerk Charlottenburg. Hier hat Charlottenburg jede Beschaulichkeit verloren, der Schlosspark liegt ein paar Straßen entfernt. Nun dominieren Industriereste, ein Biotecpark, der bisher nur auf Bauschildern „Raum für Erfahrung“ verspricht, und Kleingärten, die ihre weißen Plastestühle wieder ins Freie gestellt haben. Haltestelle Jungfernheide steigen ein paar Reisende zu, die die Ringbahn benutzt haben. Einmal noch hält der Bus, an einem der traurigsten Orte Berlins: Es ist eine Jakob-Kaiser-Platz genannte städtebauliche Ausbuchtung mit Autobahnanschluss, wo ein paar Umsteiger aus der U7 dazukommen. Hier angekommen, ist auch der Letzte bereit, Berlin zu verlassen.

„Es soll ja am Wochenende schön werden“, sagt die Ältere der beiden Berlinerinnen. „Ich glaube, dass es bei der Deutschen BA sogar etwas zu essen gibt“, sagt die Jüngere. Von weitem ist der Tower des Flughafens zu sehen. An der Endhaltestelle verteilen sich die Fahrgäste auf die Flugschalter. Einer fliegt nicht: der Mann mit Eistee und Wunde. „Entschuldigen Sie“, sagt er zu einem Mann, der gerade gelandet ist, „mein Portemonnaie wurde gestohlen. Ich muss dringend nach Hause telefonieren.“