: Draußen im Dunkeln
KINOSTERBEN Nicht nur in der Kurbel wurden die Leinwand eingerollt und der Projektor abgeräumt. Ein wehmütiger Streifzug durch Charlottenburg, wo solventere Mieter die Kinobetreiber verdrängt haben
EINE VERKÄUFERIN
VON ANDREAS BECKER
In unserem Reihenhauskeller blätterte ich als Kind in staubigen Aktenordnern einer gewissen Universum-Film. Abrechnungen mit genauen Zuschauerzahlen und Laufzeiten von Filmen des Regina-Kinos in Minden ließen schnell erahnen, warum meine Tante von allen „Millionärin“ genannt wurde. Besonders gern mochte ich die angebrochenen bunten Papierrollen mit Preisaufdrucken für Parkett und Rang. Prima als Eintrittskarten für den eigenen Geburtstag verkaufbar.
Beim ersten Kinobesuch, es war „Dschungelbuch“, zählte ich die Zuschauer und rechnete die Einnahmen aus. Wohl auch deshalb kann ich es nicht leiden, wenn ein Kino geschlossen wird. In Charlottenburg sind seit der Wende etwa 20 Kinos verschwunden. Mit zirka dreimal so viel Sälen.
Kurz vor Weihnachten erwischte es die Kurbel. Obwohl eine Bürgerinitiative über 7.000 Unterschriften für den Weiterbetrieb sammelte, wurden kurz vor Silvester Stühle und Technik verkauft und die Reklamebuchstaben abmontiert. Nur zwei unbeleuchtete rote Punkte hingen bis vor Kurzem wie Warnschilder an der Fassade.
Eine terra-real Immobilienfirma annonciert nun den „Umbau von drei Kinosälen und sechs Wohnungen“. „Pfui!“, hat jemand daneben gekritzelt. Der Hausbesitzer hat einen Mietvertrag mit Alnatura geschlossen.
Vom Winde verweht
Absurderweise fürchtete sich Kurbel-Betreiber Tom Zielinski so sehr vor einem Flashmob der Kurbel-Retter, dass er Mitte Dezember sogar vorzeitig schloss. Draußen im Dunkeln standen knapp 100 Leute und wollten ins Kino, drinnen im Dunkeln stießen die Mitarbeiter auf ihre Arbeitslosigkeit an. Eine Woche später durften sie noch einmal „Vom Winde verweht“ zeigen. Der lief ab 1953 hier für 28 Monate – täglich mehrmals, mit Schlangen um den Block.
Sucht man die ehemaligen Kinos in der Ku’damm-Gegend, gerät das zu schnell zu einer traurigen Nostalgie-Schnitzeljagd. Gebeuteltes, verpenntes, aber reiches Charlottenburg. Früher fuhr man aus ganz Westberlin hier ins Kino. Jetzt klagt man über den abgehängten Bahnhof Zoo, und vor der dunklen Kurbel geißelt tatsächlich jemand den Abriss der Deutschlandhalle. Aber in einem Stadtteil, wo kaum Neues entsteht, kann auch das Alte nicht überleben.
Vom Royal, legendär wegen seines Riesensaals mit Raucherlobby, ist gar nichts übrig. Ein Saturn-Markt steht an seiner Stelle. Rechts daneben gab’s bis letzten Sommer das kleinteilige Broadway-Programmkino. Auch dicht für immer. Gegenüber dem Europacenter, wo gerade dem Bikinihaus die sexy Betonbeine entkleidet werden – was endlich wieder den Blick auf den Affenfelsen des Zoos freigibt –, könnte man eine weitere Kinovernichtung vermuten. Denn vor dem Zoopalast prangt eine mehrere hundert Meter lange, üble Ikea-Werbung („Das Zuhause deines Lebens“), die den Privatisierungszeitgeist trifft: „Wir alle sind anders und haben doch etwas gemeinsam. Am Ende des Tages kommen wir alle nach Hause.“ Das wird die Obdachlosen vom Bahnhof freuen. Oder demnächst die Besucher des Waldorf-Astoria-Klotzes gegenüber. Der Zoopalast immerhin soll grundrenoviert und wieder eröffnet werden. Von Astor-Betreiber und Ex-Cinemaxx-Mogul Flebbe.
Ganz traurig wird die Suche nach ehemaligen Kinos im ehemaligen Gloria-Palast. Etwa da, wo einmal die Tickets verkauft wurden, steht eine junge, angenehm pummelige Benneton-Verkäuferin. Hinter ihr schwingt sich die wunderschöne Originaltreppe des Kinos in die Höhe. „Als hier noch ein Kino war, war ich noch gar nicht geboren.“ Immerhin hasst sie Multiplexe und geht am liebsten ins Kreuzberger Moviemento. Zur Belohnung kaufe ich Wollhandschuhe. Auf der anderen Tauentzien-Seite beherbergt das Marmorhaus ein Zara-Geschäft. Da ich das Marmorhaus nie mochte, betrete ich den Laden erst gar nicht.
Lustig wird es vorm heutigen Astor – bis vor einiger Zeit „Filmpalast“ –, denn schräg gegenüber steht schon gefühlte 15 Jahre ein Gebäude leer – auch dies ein ehemaliges Kino. Wie es wohl hieß, frage ich die Touristenführer, die an der Straße rumlungern. „Irgendwie wat mit Zoo oder so“, sagt ein Busfahrer. „Aber ich möchte hier sowieso nicht tot überm Zaun hängen, kenn mich auch nicht aus.“ Wo er denn gern tot überm Zaun hängen würde, wenn er sich als Tourifahrer hier schon nicht auskennt? „In Hamburg“, antwortet er. Wahrscheinlich hieß das schon ewig leere Kino Filmbühne Wien.
Als die letzte Berlinale in Charlottenburg stattfand und jemand behauptete, die ziehe bald um zum neuen Potsdamer Platz, haben wir das schlichtweg nicht geglaubt. Ich dachte, die Berlinale wird untergehen und der doofe Po-Platz sowieso. Aber ich dachte auch, das Internet würde wie eine Modeerscheinung wieder verschwinden. Wie das Faxgerät.
Fahnen statt Filme
Die Schließungen der ehemaligen UFA-Paläste hätte man noch verschmerzt, waren sie doch in den Siebzigern verschachtelte, fast reine Mainstreamhäuser. Wie übrigens auch die Kurbel lange zur UFA gehörte, die sie verkommen ließ. Richtig tragisch waren die meist lautlosen Schließungen der kleineren: Filmbühne am Steinplatz, Lupe1 und 2, Hollywood, Klick, Schlüter usw. Das überlebende Filmkunst 66 möchte man fast beschützen und freut sich über Rentner, die schon nachmittags reingehen.
Dass an einem Ku’damm-Gebäude von Atze Brauner – kurz vor seinem auch mal mit Kino bestückten Hollywood Media Hotel – tatsächlich noch die Reklame „CCC – Filme in aller Welt“ leuchtet, ist genauso absurd wie die nostalgische Erinnerung an das Big Eden im Keller des Hotels. Am schlimmsten ist der Besuch des ehemaligen Astor. Der Tommy Hilfiger Shop – es läuft Sade – benutzt die alte Leinwandfläche für eine dekorative kleine Fahnenausstellung. Sogar die geschwungenen Balkons sind noch sichtbar. Ich sinke sentimental in einen dicken Sessel und denke hinter einem Sale-Schild über den elenden Kapitalismus nach.
Wo immer mögliche Nachmieter mehr zahlen könnten als das bestehende Kino, ist Gefahr. Wenn dann auch noch investiert werden muss – wie jetzt in neue Digitalprojektoren –, kann einen nur Publikumstreue retten. Oder die für andere Branchen völlig unbrauchbare Betonstufenstruktur eines Multiplex.
Das Regina-Kino meiner Tante in Minden ist seit Ende der Neunziger dicht. Es rentierte sich einfach nicht mehr. Ein Supermarkt wollte mehr Miete zahlen.