: „Es gab doch keine Tabus“
INTERVIEW JAN FEDDERSEN UND STEFAN REINECKE
taz: Frau Hirsch, Herr Frei, als Günter Grass „Im Krebsgang“ veröffentlichte, hieß es, er habe ein Tabu gebrochen. Stimmt das? Ist das Schicksal der Vertriebenen tabuisiert worden?
Helga Hirsch: Von einem generellen Tabu kann man nicht reden. In den 50er Jahren war das Thema im Rahmen des Kalten Krieges sehr präsent. Nach 1968 hingegen entwickelte sich in bestimmten Kreisen eine freiwillige Selbstzensur. Wer von den Deutschen als Opfer sprach, galt als rückwärtsgewandt, tendenziell revanchistisch. Erst seit den 90ern kehrt das Thema mit immer noch zunehmender Wucht zurück.
Norbert Frei: Das Vertriebenenproblem war in den 50er und 60er Jahren in der Bundesrepublik eine soziale Realität. Welche Instanz, welche Macht hätte da ein Tabu durchsetzen können? Bei vergangenheitsbezogenen Themen gibt es in offenen Gesellschaften Konjunkturen, aber keine Tabus. „Tabu“ ist eine mediale Reizvokabel. Deswegen fand ich es auch kritikwürdig, dass Grass sich in dem Roman „Im Krebsgang“ in der Figur des „Alten“ als Tabubrecher inszeniert hat. Wer von Tabus redet, sucht vor allem den Aufmerksamkeitsgewinn.
Hirsch: Trotzdem war der Roman hilfreich. Fakt ist, dass Grass mit „Im Krebsgang“ in bestimmten Kreisen das Eis gebrochen hat.
Frei: Was heißt „in bestimmten Kreisen das Eis brechen“? Ich habe das Gefühl, dass die 68er ihre sich wandelnden politischen Stimmungen zum Gradmesser der Stimmungslage der Republik machen. Das ist eine Allmachtsfantasie – nur weil die 68er damals über die Vertriebenen nicht gesprochen haben und sich dafür heute geißeln, bedeutet das nicht, dass gesellschaftlich nicht über die Vertreibung gesprochen worden ist. In den 50ern sahen sich die Deutschen ja als das erste Opfer Hitlers – Flucht, Vertreibung und Bombenkrieg waren starke Details in diesem Selbstbild. Die Sozialpolitik damals verwandte viele ihrer kargen Mittel zu Recht für die Integration der Vertriebenen. Die insgesamt geglückte Integration der Flüchtlinge ist Teil der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik.
Hirsch: Dieses Bild ist zu holzschnittartig. Nehmen Sie das Buch „Vom Glück nur ein Schatten“ von Uwe-Karsten Heye, dem früheren Regierungssprecher von Kanzler Schröder und engen Mitarbeiter von Willy Brandt. Heye gehörte zu dem sozialdemokratischen Milieu, das in den 70ern die neue Ostpolitik mit getragen hat. Seine Mutter hat in der Familie nie über die Flucht gesprochen. Kurz vor ihrem Tod überreichte sie dem Sohn 17 eng beschriebene Seiten. Zwanzig Jahre lang hat er den Text ungelesen mit sich herumgetragen, bevor er den Mut fand, sich den ungelösten Fragen seiner Familiengeschichte zu stellen. Diese Verweigerung eines Dialogs über die Vertreibung war kein Einzelfall. Die Kinder haben das Thema abgewehrt.
Warum?
Hirsch: Weil wir geglaubt haben, wir könnten die Versöhnung mit unseren Nachbarn nur erreichen, wenn wir den Verlust der Ostgebiete als gerechte Strafe für die NS-Verbrechen akzeptieren. Da war für die Trauer der Eltern kein Platz. Und weil wir damals auf das Thema freiwillig verzichteten, meldet es sich jetzt zurück.
Frei: Frau Hirsch, glauben Sie wirklich, dass man auf das Thema Vertreibung bewusst verzichtet hat? Wir reden hier über grundlegende Entwicklungen wie die Ostpolitik, die – gewissermaßen als Ergänzung der Adenauer’schen Westpolitik – weit über die Sozialdemokratie hinaus für notwendig befunden und forciert wurde. Es geht um gesellschaftliche Stimmungslagen, in denen bestimmte Themen zurücktreten, andere an Gewicht gewinnen. Aber es war doch nicht so, dass massenhaft Individuen beschlossen hätten, vom Schicksal ihrer Familie nichts wissen zu wollen.
Hirsch: Es lag nicht nur an der Ostpolitik. In Reaktion auf die Verdrängung der NS-Zeit in den 50ern wollten wir in den Eltern nur noch Mittäter, Mitläufer und Opportunisten sehen. Im Grunde hatten wir damit ein ähnlich dichotomisches Weltbild wie die Elterngeneration – an die Stelle der Schuldleugnung war der „Sündenstolz“ getreten. Die Ambivalenz, dass eine Person sowohl Täter wie Opfer gewesen sein kann, konnten wir damals nicht aushalten. Das geht heute bei vielen erst, weil die Eltern tot sind. Erst jetzt können sie das emotionale Risiko eingehen und nachfragen.
Frei: Ich würde es anders beschreiben. Wir erleben momentan den Abschied von den Zeitgenossen der NS-Zeit. Die Diskursherrschaft im öffentlichen Gespräch über Vergangenheit hat nun die Generation der Kriegskinder, die mit dem „Dritten Reich“ keine eigene Schuld verbindet. Das verändert die Form der Auseinandersetzung fundamental.
Wie?
Frei: Seit den frühen 60er Jahren gab es stets die – zutreffende – Kritik, dass die Funktionsgeneration des Nationalsozialismus auch die erste Funktionsgeneration der jungen Bundesrepublik war. Diese Auseinandersetzung über dieses Kontinuitätsproblem war der dynamische Kern im Umgang mit der Vergangenheit. Seit den 80ern ist diese Funktionsgeneration ausgestorben – und damit hat sich ein wichtiges Antriebsmoment im Umgang mit der NS-Vergangenheit erledigt. Jetzt fragen sich viele in der Kriegskindergeneration, ob sie in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit übers Ziel hinausgeschossen sind und ihre Eltern ungerecht behandelt haben. Das ist respektabel, dagegen ist nichts zu sagen …
Hirsch: Aber?
Frei: … aber es wird problematisch, wenn daraus jetzt eine Pflicht zur Empathie gemacht wird, die mit ähnlichem Furor daherkommt wie seinerzeit die Kritik. Da fehlt der Sinn für die eigene Historizität, da fehlt die Selbstreflexion.
Hirsch: Wir haben wirklich verschiedene Wahrnehmungen. Ich sehe keine Massen von 68ern und Kriegskindern, die unversöhnlich auf ihre Geschichte blicken …
Frei: Im Sinne einer dramatisch inszenierten Selbstgeißelung gibt es das schon.
Hirsch: Kritisch gegenüber der starren Haltung, die sie früher eingenommen haben – das ja. Aber: Darin liegt doch der Abschied von der eigenen inneren Härte. Die Kritik am Dritten Reich war ja meist sehr pauschal. Was die Eltern in der NS-Zeit wirklich gemacht hatten, wusste doch kaum jemand. Erst jetzt entsteht die Fähigkeit, die „Große Geschichte“ in die Familiengeschichte hereinzuholen – und zwar gleichgültig, ob es sich um Leiden oder Täterschaft handelt – und sich selbst in Beziehung zu dieser Geschichte zu setzen. Das sieht man bei Wiebke Bruhns, die den Vater nicht nur in die bewundernswerte Tradition des Widerstands stellt, sondern auch den keineswegs schmeichelhaften Antisemitismus in ihrer Familie beschreibt. Ambivalenzen aushalten zu können, ist ein Zeichen von Reife. Die Eltern, sofern sie noch leben, können heute auf Verständnis hoffen – wobei Verständnis nicht Billigung heißen muss. Das ist neu. In der Zeit nach 68 hätten die Kinder, wenn die Eltern hätten reden wollen, die Türen zu gemacht.
Frei: Ein differenzierter Blick auf die eigene Biografie ist der angemessenere, darüber sind wir einig. Aber das beschreibt nicht die Situation der späteren 68er in den 50er Jahren. Diese Generation war ja mit der Gesprächsverweigerung ihrer Eltern konfrontiert. Und öffentlich merkten die jungen Erwachsenen in den frühen 60ern, wie schwierig es ist, an den Universitäten einschlägige Vorlesungen durchzusetzen, zum Beispiel über die „Braune Universität: Gestern-Heute-Morgen“. Das war ein mühseliger, langwieriger Aufklärungsprozess. Den kann man nicht 2005 einfach umdeuten in die Unfähigkeit der 68er, sich mit ihren Eltern zu verstehen.
Hirsch: Angesichts der pauschalen Anklage hat damals auch die Elterngeneration das Gespräch verweigert – das stimmt. Heute haben wir mehr Abstand, und die Haltung der Gesellschaft insgesamt ändert sich. Diese Familiengeschichten stammen ja von Angehörigen der dritten Generation wie Tanja Dückers, die Mitte dreißig ist, und von 70-Jährigen. Es existiert also weder eine einheitliche Generationenzugehörigkeit noch ein einheitliches Interpretationsraster. Es gibt bei verschiedenen Nachgeborenen das Bedürfnis, sich die Familienbiografie bewusst zu machen.
Frei: Frau Hirsch, ich habe nichts gegen diese Bücher – im Gegenteil …
Hirsch: Aber Sie unterstellen, dass da was Schlimmes passiert.
Frei: Ich unterstelle keinem dieser Autoren irgendetwas. Aber ich versuche, ein gesellschaftliches Phänomen zu begreifen: die Hinwendung zum Familiären, die nicht nur in den Köpfen der Schriftsteller existiert, sondern auf viel Resonanz trifft.
Herr Frei, können deutsche Opfererzählungen nicht auch Ergänzungen – und keine Konkurrenz zur Holocausterzählung sein?
Frei: Bei historisch Kundigen mag das auch so sein. Gesamtgesellschaftlich bin ich skeptisch.
Hirsch: Warum? Wo ist die Gefahr?
Frei: Nehmen Sie das Gedenken an die Bombardierung in Dresden. Wohin das Gerede führt, dass sich die Deutschen endlich als Opfer wahrnehmen müssen, konnte man in der Zeit lesen: Auf der Veranstaltung gegen die Rechtsradikalen meinte eine junge Frau, sie sei froh, „dass wir jetzt frei sind, unseren Toten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“.
Hirsch: Was ist daran schlecht?
Frei: Der Satz unterstellt: Früher gab es ein wirkmächtiges Tabu, das verhindert hat, dass wir unserer Toten gedachten. Das ist für den Westen schlicht falsch und traf so pauschal selbst in der DDR nicht zu. Und heute: Wo wird denn das Leid der Deutschen totgeschwiegen? In Romanen und Filmen ist das Thema präsent wie nie zuvor. Und trotzdem wird mit großem Gestus getan, als müssten Widerstände überwunden werden, die es gar nicht mehr gibt. Diese Tabulegende ist Munition für Rechtsextreme.
Hirsch: Das Kernproblem ist doch ein anderes – nämlich dass sich die deutschen Opfer nur ungenügend wahrgenommen fühlen. Als ich vor zehn Jahren über deutsche Frauen schrieb, die nach 1945 in polnischen Lagern saßen oder nach Sibirien deportiert worden waren, hörte ich oft den Satz: Es geht immer nur um Juden, nie um uns. Später hieß es: Die Zwangsarbeiter erhalten Entschädigung – und wer denkt an uns? Solange wir deutsche Opfer in der Gedenkkultur ausklammern, kann die Rechte das Thema okkupieren. Und wir begünstigen eine Rivalität unter den Opfern, die kontraproduktiv ist. Statt um den höheren Platz innerhalb einer Opferhierarchie zu kämpfen, sollte jeder Respekt vor dem Schicksal des anderen entwickeln.
Frei: Wenn man nicht bei den blanken Erfahrungen stehen bleibt und den historischen Kontext berücksichtigt …
Hirsch: Ja, das gehört zusammen, selbstverständlich. Aber liegt in der bisherigen Geringschätzung der Erlebnisse nicht auch etwas Menschenverachtendes? Vertreibung hinterlässt Schmerz, Vergewaltigung hinterlässt Scham. Vierzehn Millionen Deutsche sind vertrieben worden. Wir haben das lange heruntergespielt und verdrängt. In der Annahme der Kränkungen und Traumata liegt auch eine große Chance, Wunden zu heilen. Das zu nutzen, fällt schwer, solange sich ein bestimmtes politisches Milieu weigert, alle Opfer anzuerkennen …
Frei: Wo ist dieses Milieu, dass sich partout weigert, alle Opfer anzuerkennen?
Hirsch: Ich meine Sie.
Frei: Entschuldigung – ich bin kein Milieu, ich bin eine Einzelperson, die aus Ihrer Sicht vielleicht das Falsche sagt. Aber zu behaupten, da ist ein mächtiges Milieu, dass das Thema deutsche Opfer tabuisiert – dieses leichtfertige Gerede ist wirklich ein Problem.
Hirsch: Ich frage, warum Sie nichts Positives bei dem Thema deutsche Opfer entdecken, sondern nur Gefahren.
Frei: Vielleicht sehe ich darin ja auch Positives. Nur: Kürzlich habe ich einen Vortrag aus Anlass des 60. Jahrestags der Bombardierung von Mainz gehalten. Da fragte mich ein junger Lokalredakteur, offenbar ein Fan von Jörg Friedrich, wieso wir nicht von „Vernichtungskrieg“ reden dürfen. Dieser junge Mann hatte offenbar das dringende Bedürfnis, den Begriff, der verwendet wird, um die deutsche Kriegsführung im Osten zu kennzeichnen, umzuwidmen. Ich finde das unsäglich. Deshalb, Frau Hirsch, fällt es mir etwas schwer, zu sagen: „Toll, dass es endlich Erinnerung an deutsche Opfer gibt“ – die es ohnehin immer gab.
Lösen wir uns mal kurz von dem deutschen Kontext. Seit 1990 – erst recht seit dem EU-Beitritt von Polen, Ungarn und den baltischen Ländern – befassen wir uns intensiver mit den historische Erfahrungen Osteuropas.
Hirsch: Tun wir das? Was weiß denn ein normaler Mitteleuropäer von Osteuropa unter sowjetischer Herrschaft? Nichts.
Frei: Was weiß ein normaler Deutscher nach 50 Jahren deutsch-französischer Freundschaft von den Erfahrungen der Franzosen während der Besatzungszeit? Auch nicht viel. Mag sein, dass wir über Osteuropa noch weniger wissen. Aber die Kenntnis, wie das rasende Unglück des Zweiten Weltkrieges in anderen Nationen gewirkt hat, ist überall bescheiden. Doch das ändern wir nicht, wenn wir nur darauf beharren, unsere eigenen Erfahrungen erzählen zu dürfen.
Hirsch: Wir brauchen neben dem innerdeutschen ganz sicher auch einen internationalen historischen Bezugsrahmen. Ich schlage vor, das 20. Jahrhundert als Jahrhundert der Vertreibungen zu beschreiben, das durch die Vorstellung ethnisch homogener Nationalstaaten geprägt wurde. Dieser Theorierahmen bezieht sich auf Polen ebenso wie auf Tirol. Er kann also vereinigend wirken, indem er Menschen unterschiedlicher Nationalität als Opfer derselben aggressiven Assimilierungs- oder Ausgrenzungspolitik beschreibt.
Frei: Ich nehme Ihren Vorschlag auf. Das weithin für modern gehaltene Ziel der ethnisch gesäuberten Nationalstaaten ist ein Schlüsselproblem schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts – Flucht und Vertreibung waren auch das Ergebnis dieses historisch verhängnisvollen Weges. Nur: Warum wollen die Deutschen diese Erkenntnis im Alleingang kodifizieren? Und zwar gegen starke Widerstände im Ausland?
Hirsch: Sie spielen auf das Zentrum gegen Vertreibung in Berlin an. Aber bei diesem Projekt geht es darum, Vertreibungen als gesamteuropäisches Problem zu zeigen …
Frei: Was hilft es, wenn sie in Berlin ein Zentrum gegen Vertreibungen errichten und so den Dialog mit Polen und Tschechien um fünf Jahre zurückwerfen?
Hirsch: Nein, wir sind nicht zurückgeworfen worden – höchstens hinter den „Versöhnungskitsch“, mit dem wir uns lange Zeit täuschten. Der Grund für das Zentrum gegen Vertreibung entsprang dem Wunsch nach Anerkennung deutscher Opfer. Auch ihnen steht ein Ort des Gedenkens zu. Und ich freue mich auf den Tag im nächsten Jahr, an dem die Ausstellung eröffnet wird und die Öffentlichkeit sich überzeugen kann, dass die Vertreibung der Deutschen eingeordnet ist in die Chronologie der Vertreibungen des ganzen Jahrhunderts – und viele Befürchtungen umsonst waren. Richtig ist, dass es in Polen traumatisierte Menschen wie den früheren Außenminister Wladyslaw Bartoszewski oder Marek Edelman, Mitorganisator des Warschauer Ghetto-Aufstandes 1943 gibt, die unter den Nazis gelitten haben und für die dieses Zentrum ein Schock war. Diese Menschen sollten wir überzeugen, dass das heutige Deutschland geläutert ist. Aber der wesentliche Widerstand gegen das Zentrum kommt von anderswo – von der polnischen Rechten, die mit dem Zentrum gegen Vertreibungen von ihren eigenen Schattenseiten ablenken.
Frei: Das ist ziemlich verkürzt. Wenn so versöhnungsbereite Leute wie Bartoszewski sich so kritisch äußern, dann haben die Deutschen allen Grund, auf die Gefühle dieser Überlebenden Rücksicht zu nehmen – und sie nicht vor den Kopf zu stoßen.
Hirsch: Interessant. Jetzt sollen wir nach Ihrer Logik auf Zeitzeugen Rücksicht nehmen – weil es Polen sind. Und was ist mit den Deutschen, die traumatische Erfahrungen haben?
Frei: Es hat niemand ein Problem damit, dass diese Zeitzeugen ihre Geschichten erzählen. Die Buchhandlungen sind voll davon. Sie selbst betreiben dieses Geschäft doch sehr erfolgreich und mit gutem Grund …
Hirsch: Ich betreibe kein Geschäft …
Frei: Das ist nicht negativ gemeint. Ich habe überhaupt nichts gegen dagegen – ich wende mich nur gegen den Eindruck, dass Sie das gegen den gesellschaftlichen Mainstream durchsetzen müssen.
Hirsch: Das behaupte ich doch nicht. Wir haben es mit einer wahren Erinnerungsflut zu tun, einem Erinnerungsdruck. Und den Erzählern geht es nicht darum, sich als Opfer zu konstituieren, sondern um Klärung der Identität.
Sehen Sie keine Gefahr, dass all dies der NPD nutzt?
Hirsch: Nur wenn wir ihnen die Interpretationshoheit auf diesem Feld überlassen. Sonst nicht.
Frei: Ich schon. Ein Wort wie „Bombenholocaust“, das im sächsischen Landtag fiel, kann langfristige Wirkung haben. Wir sind gut beraten, beim Thema „Deutsche als Opfer“ – und das sind viele in der Schlussphase des Krieges und während der Vertreibung 1945 unbestreitbar geworden – hellhörig zu bleiben. Denn diese Debatte findet im Kontext einer globalen kulturellen Interpretationsverlagerung statt. Womit kann man heute noch Distinktionsgewinne erzielen? Durch den Opferstatus. Das haben – siehe „Bombenholocaust“ – auch die Rechtsradikalen begriffen.
Hirsch: Sie sehen wieder nur Gefahren. Wenn jemand einen Opferstatus in nicht tolerierbarer Weise einklagt – wie etwa die „Preußische Treuhand“, die auf die Rückgewinnung deutschen Eigentums östlich von Oder und Neiße zielt – dann können wir dem doch öffentlich entgegentreten. Deswegen habe ich zum Beispiel eine Erklärung initiiert, in der unter anderen Wolfgang Thierse, Freya Klier und Klaus Bednarz ihren Verzicht auf früheres Eigentum in den verlorenen Ostgebieten erklären. Das ist eben der Kampf um die Interpretation. Den gilt es zu führen – und nicht das Thema abzuwürgen.
Frei: Wer tut denn das?
Hirsch: Na, Sie. (lacht)
Frei: Frau Hirsch, kein Historiker hat die Macht, einen gesellschaftlichen Diskurs abzuwürgen. Abgesehen davon, dass ich das nicht will.
Eine längere Fassung des Gesprächs ist online unter www.taz.de/freihirsch zugänglich, eine kürzere erscheint im Journal „Die Macht der Erinnerung“, das ab 13. April erhältlich ist.