: Polyesterträume vom Glück
OSTEUROPA Roadmovie, Männerfreundschaft, Hoffnungslosigkeit: Andrzej Stasiuk erzählt in „Hinter der Blechwand“ gegen den Stillstand an
VON PATRIZIA HECHT
Die Zeit vergeht langsam im östlichen Europa Andrzej Stasiuks. In weiten Landschaften liegen alte Dörfer aus Holzhütten, grün mit blauen Fensterläden, und scheinen seit Jahrhunderten im Dornröschenschlaf versunken. Schlehen und Weißdorn säumen die Schotterwege, Pferdefuhrwerke sind keine Seltenheit. Ein wenig vorangeschritten, aber irgendwo in den Achtzigern gestolpert sind diese Menschen in Trainingsanzügen aus Polyester, die am Dorfeingang sitzen und darauf warten, dass etwas passiert.
Und weil auf absehbare Zeit nichts passieren wird in diesem abgehängten Teil Europas, weil es keine Ereignisse gibt, die bis in die Dörfer dringen, setzt sich der Ich-Erzähler Pawel in Bewegung, um den roten Faden des Romans „Hinter der Blechwand“ auszulegen. Er fährt in seinem schrottreifen Fiat Ducato tausende Kilometer durch Polen, die Slowakei, die Ukraine und Rumänien, um dem Stillstand zu entfliehen. Gehalten wird nur an Tankstellen und Werkstätten, um das Auto und sich selbst mit Öl, Benzin und Alkohol einzudecken – und auf Märkten. Dort verkauft er Third-Hand-Kleidung aus dem Westen, aus Nylon oder verwaschener Baumwolle, ein kleiner Traum vom Glück: „Sie belügen sich, aber Paris klingt eben immer tröstlich.“
Pawel, Mitte 40, alleinstehend und einsam, hat neben seinem Auto eine Katze ohne Namen, die Gewohnheit, in der Dunkelheit am Fluss zu sitzen und zu trinken, und eine Geschichte, aus der er nur das Nötigste wie beiläufig preisgibt – ein Beobachter, kein großer Redner.
Das scheint sich gut zu ergänzen, denn sein einziger Freund Wladek lebt von Aufmerksamkeit und kann Menschen um den Finger wickeln mit Geschichten: „Wenn jemand ihn wahrnahm, wurde er sichtbar. Er sammelte sich, geriet in Spannung, seine Gegenwart verdichtete sich. Er war überall, sah und wusste alles, den Rest ahnte er.“
Pawel fährt, Wladek handelt, zusammen sind sie die „Könige des Plunders“, eine Zweckgemeinschaft, eine Männerfreundschaft, die sich gegen die Sonderangebote der Shopping Center und vor allem die stärker werdende Billigwarenkonkurrenz aus Asien behauptet – Kapitalismus und Globalisierung machen auch vor weißen Flecken auf der ehemaligen kommunistischen Landkarte nicht Halt. Bald jedoch ist klar, dass sich Wladek manches, was er über seine vergangenen goldenen Zeiten erzählt, als Händler und Schmuggler, ausdenkt. Und vor allem einiges weglässt.
Andrzej Stasiuk, polnischer Autor und Journalist, der als Chronist vergessener Orte, als Autor von Reiseskizzen und Essays bekannt wurde, hat viel über Europa und das Verhältnis Polens zu seinen Nachbarn geschrieben und ist dabei auch wegen seiner zuweilen drastischen Sprache bekannt. Die schimmert auch hier durch, wenn Ich-Erzähler Pawel seine Worte vor lauter Hoffnungslosigkeit auszuspucken scheint oder wenn surreale, fast filmische Szenen in die Erzählung einbrechen: Wenn Kundinnen Ärger machen („Sie dachte, die Menschen müssten sich so verhalten, weil sich die Junkies in amerikanischen Filmen so verhielten“) oder eine Wildsau einem vietnamesischen Händler auf einem Markt die Kehle durchbeißt. Kein gutes Pflaster für die Konkurrenz.
Auf weiten Strecken jedoch schlägt der Ich-Erzähler Pawel leisere, poetische Töne an, von Renate Schmidgall feinfühlig ins Deutsche übersetzt. Müde ist er und resigniert, melancholisch beschreibt er die Menschen, die es aufgegeben haben, auf Veränderung zu hoffen: Marktschreier, verlassene Alte, Kleinkriminelle und hin und wieder einige, die menschliche Wärme ausstrahlen und, wie seine Vermieterin, mit Pawel auch mal ein paar Worte wechseln.
Darin liegt die Stärke von „Hinter der Blechwand“: In der fast zärtlichen Beschreibung von Menschen, dicht genug, um platten Ostblockklischees zu entgehen, und den epischen von Weite und Schönheit der Landschaft – der Endzeitstimmung aber eben auch, die mehr als zwanzig Jahre nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs über dem Ganzen liegt: „Sie glauben an nichts und wollen die Wahrheit wissen. Vor allem wollen sie wissen, wer sie so verarscht hat.“
„Hinter der Blechwand“ ist ein Roadmovie der Reste, der Verlorenheit und des Status quo. Problematisch nur, dass damit auch die eigentliche Handlung weitgehend unter die Räder gerät. Der Plot nämlich, der nicht um den Handel mit Kleidung, sondern um den mit Menschen kreist, kommt spät und scheint fast pflichtbewusst eingeflochten. Und folgt dann auch noch gängigen Rollenklischees einer aus der Zeit gefallenen Männlichkeit, die mit viel Schrauben und Benzin ohnehin vorbereitet war: Die Schönheit des fahrenden Jahrmarkts, in die sich Wladek verliebt und die auch noch Eva heißen muss, soll gerettet werden – koste es, was es wolle, und seien es Menschenleben.
Fast hollywoodreif scheint dann der Schluss rund um die Rettung der Märchenprinzessin, und der Menschenhandel gerät schnell wieder in Vergessenheit. Zwar scheitert so die Legitimation des Romans, die durch diesen nur angeschnittenen Plot offenbar versucht wird. Pawel und Wladek hätten auf den letzten Seiten nicht zu Actionhelden mutieren müssen. Wesentlich glaubwürdiger sind sie in dem, was sie sonst tun: Auf ihren Fahrten gegen den Stillstand folgt man ihnen gerne.
■ Andrzej Stasiuk: „Hinter der Blechwand“. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Suhrkamp 2011, 349 Seiten, 22,90 Euro