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Archiv-Artikel

„Alle unsere Figuren sind besessen“

KINO Die Traurigkeit einer Vaterjagd: Jean-Pierre und Luc Dardenne über ihren Film „Der Junge mit dem Fahrrad“

Stars eines unsentimentalen Sozialrealismus

■ Jean-Pierre (l.) und Luc Dardenne, geboren 1951 und 1954, wuchsen in einer Industriesiedlung der belgischen Provinz Liège auf. Als Regisseure und Drehbuchautoren stehen sie für ein Kino, das große moralische Fragen und einen aufklärerischen Impetus mit einem stets konkret an ihre Figuren und deren soziale Kämpfe bezogenen Humanismus verbindet.

■ Nach Dokumentarfilmen, unter anderem über Nazi-Verbrechen, drehten sie 1996 ihren ersten Spielfilm, „La Promesse“, über einen Jungen, der gegen seinen rassistischen Vater rebelliert. Seitdem entwickelten die Dardennes in fünf weiteren Filmen ihr schnörkelloses und doch stets bewegendes Kino eines unsentimentalen Sozialrealismus.

■ Mit dem Film „Rosetta“ über ein Mädchen aus der Unterschicht, das um seinen Platz im Leben kämpft, gewannen sie 1999 ihre erste Goldene Palme in Cannes. Danach entstanden „Le fils“, „L’Enfant“ (zweite Goldene Palme) über einen Vater, der sein neugeborenes Kind verkauft, „Lornas Schweigen“ über den Überlebenskampf einer jungen Albanerin und jetzt „Der Junge auf dem Fahrrad“, der in Cannes mit dem großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde.

INTERVIEW ANKE LEWEKE

taz: Jean-Pierre und Luc Dardenne, im Titel Ihres neuen Films, „Der Junge mit dem Fahrrad“, schwingt die Kinogeschichte mit. Man muss an Vittorio de Sicas neorealistischen Klassiker „Ladri di biciclette“ – „Fahrraddiebe“ – denken. Zufall oder Absicht?

Jean-Pierre Dardenne: Beim italienischen Titel unseres Films „Il ragazzo con la bicicletta“ ist die Ähnlichkeit noch stärker. In beiden Filmen wird zweimal das Fahrrad gestohlen, aber mehr Parallelen sehe ich nicht.

Luc Dardenne: Das Fahrrad ist bei uns der Motor der Geschichte. Bei de Sica ist die Suche danach der Handlungsmotor. Bei uns geht, wenn Cyril in die Pedalen tritt, die Geschichte immer weiter.

Sie haben die Titelheldin Ihres Films „Rosetta“, der 1999 die Goldene Palme von Cannes gewann, in Interviews als Kriegerin bezeichnet. Der Junge auf dem Fahrrad wiederum erinnert an einen Jäger. Er jagt seinen Vater …

Luc Dardenne: „Rosetta“ ist ein Kriegsfilm. Sie zieht in den Krieg, um einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Was wahrscheinlich all unsere Figuren verbindet, ist, dass sie von etwas besessen sind. Cyril ist davon besessen, seinen Vater zu finden. Er möchte wieder mit ihm zusammenleben, und diese Obsession bringt ihn dazu, sich zu bewegen, weiterzuleben, sie ist der Motor seiner Existenz. Denn für ein Kind ist es unvorstellbar, dass ein Vater nichts von ihm wissen möchte, deshalb kann es den Gedanken gar nicht erst annehmen.

Jean-Pierre Dardenne: Und weil sie von dieser Obsession getrieben werden, müssen sich unsere Figuren nicht erklären. Deswegen sind sie auch nie psychologisch aufgebaut oder strukturiert.

Ist es diese Obsession, die einen Wechsel der Perspektive mit sich bringt? Man sieht Ihren Figuren nicht nur zu, sondern man folgt ihnen regelrecht mitten hinein in ihre Gegenwart. Wie erzeugen Sie filmisch dieses Gefühl der Unmittelbarkeit?

Jean-Pierre Dardenne: Wir versuchen, keine Distanz zwischen dem Blick des Zuschauers und der Figur entstehen zu lassen. Das heißt, der Zuschauer soll nicht einfach auf einen psychologischen Fall oder auf eine Sozialakte blicken. Wir wollen, dass der Zuschauer von innen heraus die Figur, die Dinge betrachtet. Dass er Teil der Ängste, der Hoffnungen, des Lebens der Hauptfigur wird. Genau das versuchen wir mit unseren Kamerabewegungen, deshalb sucht die Kamera so häufig die Nähe.

Luc Dardenne: In „Der Junge mit dem Fahrrad“ sind wir auch hin und wieder mit der Kamera einen Schritt zurückgegangen, damit die Einsamkeit des Jungen sichtbar wird. Der Zuschauer soll von Anfang an ein teilnehmender Zeuge sein. Damit er nicht sagen kann: Das betrifft mich alles nicht. Es geht uns um eine intensive Begegnung oder besser noch: um eine Konfrontation. Man soll keine Zeit haben, nachzudenken, zu analysieren oder zu reflektieren. Deshalb verwenden wir auch häufig 360-Grad-Schwenks, damit sich der Zuschauer in der Mitte des Geschehens, zwischen den Körpern wiederfindet.

Er findet sich auch in der Verzweiflung des Jungen wieder, die allgegenwärtig ist. Sie filmen nicht einfach einen weinenden Jungen ab. Wie gelingt es Ihnen, dass Cyrils Wut und Verzweiflung jedes Bild durchdringt?

Luc Dardenne: Thomas Doret, der Darsteller des Cyril, hat schon etwas Trauriges im Gesicht, vielleicht ist es der Schwung der Lippen. Es gibt bei diesem kleinen Kerl einen Kontrast zwischen dem Kinderkörper und diesem ernsten, fast schon erwachsen wirkenden Gesicht. Diese Schwere spürt man, wenn man sein Gesicht sieht – das war schon das Wunder beim Casting. Als wir ihn zum ersten Mal sahen, da war er schon da, dieser starke, sehr ernste Ausdruck.

Jean-Pierre Dardenne: Diese Schwere brachte der Darsteller mit. Wir haben versucht, seine Traurigkeit in eine filmische Form zu überführen. Und wir sagten uns, dass dieser Junge immer in Bewegung sein muss. Wir haben ihm nie gesagt: Jetzt musst du traurig dreinschauen. Sondern: Du musst deinen Vater suchen. Cyril haut aus dem Heim ab, er klettert über Mauern, er rennt der Liebe hinterher. Er glaubt, dass der Vater der Einzige ist, der ihm die Liebe geben kann, und er hat ja nicht Unrecht.

Also, kann man ganz klassisch sagen, dass in Ihrem Kino motion zu emotion wird?

Jean-Pierre Dardenne: Es ist wie das Gemälde bei Munch. Es bildet keinen Schrei ab, das ganze Gemälde ist ein Schrei, die Wellenbewegungen, die Farbgebung. Das ist die große Herausforderung von Kunst überhaupt. Wir wollten, dass der Film diese Verzweiflung und die Besessenheit ist.

Luc Dardenne: Und um bei dem Bild des Jungen auf dem Fahrrad zu bleiben: In dieser Bewegung wird es auch den Moment geben, der ihn verändert. Und zwar, wenn er mit Samantha zum Picknick fährt. Da kann er endlich akzeptieren, dass Samantha ihn liebt, für ihn da ist.

In Interviews haben Sie Ihren Film als eine Art Märchen bezeichnet. Anders als in Ihren früheren Filmen scheint die Sonne. Das Licht ist hell und freundlich. Ist Samantha dann die Glücksfee, die plötzlich in Cyrils Leben erscheint?

Film mit Fluchtinstinkten

■ Im Film „Der Junge mit dem Fahrrad“ erzählen die Brüder Dardenne nicht nur eine Geschichte, sondern sie vergegenwärtigen ein Leben. Ihr kleiner Held Cyril sitzt auf dem Fahrrad und sucht nach Liebe. Immer wieder haut er aus dem Heim ab, versucht seinen Vater abzupassen, der jedoch ein neues Leben ohne seinen Sohn beginnen will. Luc und Jean-Pierre Dardenne übernehmen Cyrils Atemlosigkeit, geben seinen Fluchtinstinkten nach. Wie aus dem Nichts fragt Cyril eine junge Frisörin (Cécile de France), die er zufällig im Wartezimmer eines Arztes trifft, ob er am Wochenende zu ihr kommen dürfe. Plötzlich wird das Kino zum Ort einer bedingungslosen Solidarität: Samantha stimmt zu. Für diese wunderbare Geste wird der Film kein Motiv liefern. So schenkt das Kino einem kleinen Jungen ein Stück Geborgenheit, bevor er sich wieder auf sein Fahrrad schwingt.

Luc Dardenne: Ja, aber er sucht sie sich, er wirft sich auf sie im Wartezimmer. Sie hat keine Angst vor ihm, sie spürt seine Not, und sie fällt nicht vom Himmel, sondern nur vom Stuhl, weil er sie packt und umklammert. Ihr einziger Beweggrund ist, den Jungen zu mögen, ihm ihre Liebe zu geben, damit er die Gewalt, die er erlebt hat, überwinden kann. Ja, natürlich ist das ein utopischer Moment, die Wirklichkeit ist sehr anders.

Jean-Pierre Dardenne: Und dennoch, dass sie sich um diesen Jungen kümmert, ist doch eine zutiefst menschliche Geste, oder?

Bleiben wir noch beim Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Ein Motiv, das in Ihren Filmen immer wiederkehrt. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Luc Dardenne: Das ist sicher eine Obsession, aber die tieferen Gründe kennen wir gar nicht so. Was uns interessiert, sind die beiden Generationen, was die Vätergeneration weitergibt oder eben nicht weitergibt, wie sich die Söhne danach sehnen, etwas von den Vätern zu bekommen, ob sie das Erbe annehmen oder nicht. Die Geschichte zwischen Vätern und Söhnen gibt es schon in der Bibel. Wir reihen uns nur in diese Tradition ein.

Sie haben als Dokumentarfilmer begonnen. Was hat Sie daran gereizt, ins Spielfilmfach zu wechseln. Ist der Wirklichkeit mit Fiktion anders nahezukommen?

Jean-Pierre Dardenne: Nachdem wir uns einige Jahre sozusagen mit der Wirklichkeit imprägniert hatten, gab es das Bedürfnis, Geschichten, die uns interessieren, eine neue filmische Form zu geben. Die Fiktion ermöglicht es einem, hinter das Geheimnis von Dingen zu kommen. Ich will jetzt gar nicht so sehr Fiktion und Dokumentarfilm gegenüberstellen. Unsere Filme basieren immer auf Fakten, sie wurden in Zeitungsartikeln gefunden, haben wenigstens teilweise in der Realität so stattgefunden. Und hier ging es uns darum, zu beobachten, wie der Junge, der verlassen wurde, mit dieser Verlassenheit umgeht. Ob er asozial wird, ob er Gangster wird oder vielleicht doch das Leben wieder annehmen kann. Ob er sich nicht neue Beziehungen zu Menschen aufbauen kann. Dieses Abenteuer wollten wir mit Cyril teilen.