: „Der 1. Mai ist eine Chance“
Die Ablehnung der Randale ist im Kiez massiv, sagt Silke Fischer. Die Ex-Hausbesetzerin koordiniert das Myfest – und arbeitet fürs Bezirksamt. Ein Gespräch über Rap, SO 36 und gemeinsame Träume
Interview PLUTONIA PLARREund ULRICH SCHULTE
taz: Frau Fischer, noch drei Tage bis zum 1. Mai. Sind Sie schon aufgeregt?
Silke Fischer: Selbstverständlich.
Warum? Sie organisieren das Myfest schon zum dritten Mal.
Na ja, man kann den 1. Mai nicht einschätzen. Die Oranienstraße wird zum Herz der Revolutionären 1.-Mai-Demo erklärt – unabhängig davon, ob die Leute hier Bock auf Randale haben oder nicht. Das Problem ist nicht die Demo, sondern dass hier einmal im Jahr ein Zustand wie im Bürgerkrieg hergestellt wird.
Was hat sich in den vergangenen Jahren geändert?
Viel mehr Leute sagen öffentlich ihre Meinung. Schon 2003 hatten sie die Schnauze von der Randale voll, motzten aber nur hinter vorgehaltener Hand. Inzwischen ist die Ablehnung massiv.
Wie äußert sich das?
Es helfen mehr Menschen bei der Organisation. Wir haben letztens den Film „Mensch, Meier“ gezeigt. Der junge Filmemacher hat Leute ganz persönlich zum 1. Mai befragt und die Aussagen unkommentiert gegenübergestellt. Natürlich waren dann auch orthodoxe Leute da, Maoisten, aber denen haben Jugendliche entgegnet: „Geht doch nach Grünewald! Warum immer hier bei uns?“ Sie meinten natürlich Grunewald, aber die Botschaft ist eindeutig. Die Jugendlichen aus dem Kiez fragen sich zu Recht: Was haben wir mit den Ritualen der Deutschen, der ehemaligen Hausbesetzer eigentlich zu tun?
Die Polizei hat die Route der 1.-Mai-Demo verlegt. Finden Sie das problematisch?
Nein. Seit 18 Jahren läuft sie mitten durch den Kiez, mit anschließender Randale. Daraus den Anspruch abzuleiten, dass alles so bleibt, wie es immer war, finde ich absurd.
Beteiligen sich alle am Fest – Migranten, Anwohner ebenso wie frühere Hausbesetzer?
Nein. Der Zulauf aus der Migrantenszene ist viel stärker als von ehemaligen Hausbesetzern.
Was reizt Kids, die vielleicht vor zwei Jahren noch Steine warfen, am Myfest?
Wir setzen uns mit der Kultur der Jugendlichen auseinander. Man mag diese MTV-Kultur erschreckend finden, aber so ist sie nun mal. Ein Beispiel: Als ich an einem freien Tag das Fenster öffnete, hörte ich richtig gute Musik. Im Nebenhof standen sechs Kids, die Ranzen hatten sie an die Wand geschmissen. Die einen machten Beatbox – also den Takt mit dem Mund –, zwei legten eine Melodie drauf, und die anderen texteten im Wechsel. Das war professionell.
Diese Erfahrung schlägt sich im Myfest-Programm nieder.
Stimmt. Auf drei Bühnen läuft Breakdance und Hiphop rauf und runter, nach dem Motto: Rappen, bis der Arzt kommt. In den Jugendeinrichtungen kommen alle Kulturen, Altersgruppen und sozialen Schichten zusammen. Was da – nicht nur in puncto Musik – abläuft, ist toll. Leider bekommt die Öffentlichkeit es nicht mit. Der 1. Mai ist insofern eine große Chance.
Warum?
Weil auf dem Myfest die Verständigung klappt. Plötzlich mischen sich alle Stilrichtungen. Das Phänomenale an Kreuzberg ist ja, dass hier alles, selbst die politische Auseinandersetzung, konserviert ist. In manchen Kneipen findet man die original 70er-Jahre – ob es nun die Einrichtung, die Klamotten der Gäste oder sogar ihre Umgangsformen sind. Aber der 1. Mai beweist, das hier in den letzten 30 Jahren ein Kulturtransfer stattgefunden hat …
… der im Alltag aber nicht zu Tage tritt – da leben alle nebeneinanderher.
Natürlich gibt es hier die viel zitierten Parallelgesellschaften. Nur sehen sie anders aus, als alle meinen. In der türkischen Anwohnerschaft gibt es Menschen, die sich türkisch definieren. Aber auch welche, die sagen, wir sind deutsch, kurdisch oder Aleviten. Auch Deutsche grenzen sich voneinander ab. Das fällt nicht so auf, weil wir eine Sprache sprechen. Das Nebeneinanderherleben trifft nicht nur auf Ethnien zu, die wichtigste Rolle spielen soziale Kategorien.
Sie leben seit 25 Jahren in Kreuzberg. Wie hat Sie das geprägt?
Ich bin fünf Mal weggezogen – nach Neukölln, Potsdam oder Marokko. Jedes Mal mit dem Gedanken: Ich komme nie wieder. Aber nach ein, zwei Jahren hatte ich das Gefühl, ich muss nach Hause. Ich liebe Kreuzberg. Aber manchmal sind es mir auch zu viele Widersprüche und Individualitäten, zu laut, zu roh.
Sie haben zwei Söhne, 23 und 17 Jahre alt. Wenn man mit dem Jüngeren spricht, hat man den Eindruck, er kann nicht richtig Deutsch. Wie kommt das?
Er spricht das, was hier alle sprechen – dieses Pidgin-Deutsch. Der Junge ist in einer Grundschulklasse großgeworden, in der 73 Prozent der Kinder nichtdeutscher Herkunft waren. In der Oberschule waren es 85 Prozent. Kinder orientieren sich immer an der Mehrheit.
Wie reden Sie mit ihm?
Ich spreche mit ihm so wie mit Ihnen. Er spricht in seiner Sprache, sagt zum Beispiel: „Ich Karstadt.“ Erst wenn ich frage, was das heißt, kommt: „Mensch, ich treffe mich da mit einem Freund.“ Dann kriegt er das hin. Irgendwo gibt es also einen Sprachteppich in ihm.
Viele Linksbewegte, auch tazler, ziehen aus Kreuzberg weg, sobald die Kinder ins schulfähige Alter kommen.
Ich bedaure, dass ich das nicht auch gemacht habe. Die Kinder zahlen den Preis für verfehlte Integration. Es ist doch eine Katastrophe, wenn drei Kinder in der Klasse Deutsch sprechen und dem Rest rudimentäre Sprachkenntnisse fehlen.
Können Sie sich vorstellen, in SO 36 alt zu werden?
Mit Sicherheit nicht. Ich will, dass die Jungs noch Fuß fassen. Sie möchten beide nicht weg. So lange bleibe ich.
Sie wohnen in einem Haus der Luisenstadt-Genossenschaft, eines Bündnisses von ehemals besetzten und dazugekauften Häusern in Selbstverwaltung. Sie müssten auch diese Gemeinschaft verlassen.
Das Klima in den Häusern ist sehr angenehm. Aber ich würde hier nicht zur Ruhe kommen. Man muss ein Haus in Kreuzberg auch schützen.
Das Haus als Trutzburg?
Eher als Insel, auf der man Schutz vor der Außenwelt sucht. Man hat einfach keine Lust, dass morgens ein Junkie mit einer Spritze im Arm im Keller liegt. Das macht man eine Weile mit, aber irgendwann ist das Schloss an der Haustür da. Aber, wie gesagt, ich bin fünf Mal wiedergekommen. Nehmen Sie mein Gerede nicht so ernst.
Ist die „Luisenstadt“ ein Stabilisator im Kiez?
Auf jeden Fall. Ökonomisch, politisch, gesellschaftlich sowieso. Wir haben kulturell durchmischte Hausgemeinschaften, die funktionieren – weil eine Kommunikation da ist. Wenn man aufhört, sich als Ethnie zu definieren, sondern als Nachbar und Kreuzberger, klappt es. Wir haben immer gesagt: Kreuzberger wird man nicht durch Geburt, sondern durch Gesinnung.
Sind Sie eine Autorität hier?
Weiß ich nicht.
In Teilen der Autonomenszene sind Sie als „SPD-Agentin“ verschrien. Wussten Sie das?
Das ist mir wurscht. Ich bin Mitglied, aber nicht aktiv. Im Grunde meines Herzens fühle ich mich als waschechte Sozialdemokratin. Ich finde wichtig, dass Leute gucken: Wo sind Schwächere, wo kann man was zusammen machen?
Wird das von der SPD repräsentiert?
Meine Mutter ist 82 Jahre alt, sie ist in Essen großgeworden, sozusagen in der Grube. Sie wollte austreten, als Helmut Schmidt Kanzler wurde. Der war für sie ein hervorragender Staatsmann, aber kein Sozialdemokrat. Ihr Vater meinte dazu: Was interessiert dich Schmidt? Bist du Sozialdemokratin in deinem Herzen oder nicht? Ich muss die Widersprüche zwischen aktueller Politik und Anspruch ja nicht aushalten, ich bin Privatperson.
Ist es ein Widerspruch, dass Sie als ehemalige Hausbesetzerin beim Myfest eng mit der Polizei zusammenarbeiten?
Nein. Wir haben immer das Problem, dass es politische Bedingungen gibt, die man ändern will. Die Polizei ist in diesem Kontext nur das ausführende Organ für die Durchsetzung von Recht und Gesetz. Zugegeben, wenn ich an die Hausbesetzerszene und Herrn Lummer zurückdenke, wird mir jetzt noch komisch im Magen.
Wie haben Sie die Polizei damals erlebt?
Ganz unterschiedlich. Es gab sehr korrekte Hausdurchsuchungen. Dort wurde nichts zerschlagen, die Türen blieben heil. Aber ich habe auch solche erlebt, auf denen sich Polizisten austobten. Ich halte aber Schwarz-Weiß-Denken für problematisch. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass die katholische Kirche abgrundtief Scheiße ist. Jenseits der Führungsfiguren, die erzkonservativen Unsinn daherreden, gibt es einen Haufen engagierter Leute. Zum Beispiel betreut hier im Kiez ein Pfarrer die Suppenküche Arche Noah. Er hat einen Glauben, eine Überzeugung und packt an, wo Hilfe nötig ist. Vor ihm habe ich Hochachtung, mir ist egal, wo er die Power hernimmt.
Wo nehmen Sie Ihre Power her? Und sagen Sie bitte nicht, aus der Sozialdemokratie.
Na ja, ich werde doch aus Steuergeldern finanziert. Ich bin Angestellte des öffentlichen Dienstes.
Das ist keine Antwort.
Die ist banal und sehr persönlich. Ich möchte gerne in den Spiegel gucken können, ich möchte für das gerade stehen, was ich richtig finde. Sobald ich in den öffentlichen Raum wirke, stelle ich mir die Frage: Gibt es ein kollektives Unbehagen oder einen Wunsch, was sich mit meinem Empfinden trifft? Ach, letztlich ist es die Liebe zum Leben. Um den Dreck zu sehen, brauche ich mich nicht anzustrengen. Da reicht ein Ausflug zum Kottbusser Tor. Um das Gute zu sehen, muss ich mich anstrengen. Das lohnt sich.
Auch beim Myfest?
Ich erzähle mal ein Beispiel: Ein Junge steht auf der Bühne, vielleicht 17, ich höre mir den an. Als er runterkommt, sage ich zu ihm: „Weißt du, dass du ziemlich gut bist? Bleib dran.“ Er antwortet: „Ich geh’ auch nicht mehr Steine schmeißen.“ Ich glaube, es gibt ein Zeitfenster im Leben eines Jugendlichen, wo er sich abgrenzen, vor anderen glänzen will. Das ist das Recht der Jugend. Doch diese Kids sind morgen die Elterngeneration. In einer Studie stand, dass in 30 Jahren 50 Prozent aller Kinder nichtdeutscher Herkunft sind. Na, da müssen wir doch langsam schauen: Wovon träumen die? Und sie träumen von einer Zukunft, das ist alles. Teil der Gesellschaft zu sein, mitbestimmen zu können. Als ich 20 war, wollte ich dasselbe.