: „Als ob das Trauma Identität stiftet“
Vom postmodernen zum Post-Mortem-Kino: In aktuellen Mainstream-Filmen kommt dem Trauma große Bedeutung zu. Mal sucht Verdrängtes die Figuren heim, mal agieren sie gleich wie aus dem Jenseits heraus. Warum das so ist, erklärt der Amsterdamer Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser
INTERVIEW TIM STÜTTGEN
taz: Herr Elsaesser, der Begriff Postmoderne bezeichnet mittlerweile wahllos alles, was zeitgenössisch ist, gerade in der Filmtheorie. Sie sprechen nun von „Post-Mortem“-Kino. Was meinen Sie damit?
Thomas Elsaesser: Das kommerzielle Kino beschäftigt sich mit Leben und Tod und in letzter Zeit immer häufiger mit Nachleben, Überleben und parallelem Leben. Es geht um ein Leben, das weder historisch verankert noch vollkommen menschlich ist. Es ist weder in der Natur noch in der Technologie zu Hause. Das trifft sich mit den Diskursen über künstliche Intelligenz und einer damit versprochenen Geschichtslosigkeit des Lebens. Auf der anderen Seite beschäftigt sich das Mainstream-Kino mehr denn je mit Erinnerung, Gedächtnis und Trauma, mit Themen also, die als politische Debatten über Vergangenheitsbewältigung einerseits und Vergangenheitsbewahrung andererseits in Europa präsenter denn je sind. Es ist schon erstaunlich, wie stark diese Themen selbst bei so massentauglichen Filmen wie „Pulp Fiction“, „The Sixth Sense“ oder „Forrest Gump“ die Erzählungen durchdringen. Ohne Geschichte, als reine Gegenwart, wären diese Filme wie tot. Genauso ihre Protagonisten, die teilweise ja noch nicht mal im Film in linearer Chronologie leben und sterben.
Ist das Kino ein Ort der ewigen Wiederkehr, des Traumas?
Trauma ist in den letzten 15 Jahren zu einem Paradigma geworden, das über den klinischen Bereich, die Holocaust-Überlebenden oder den Kindesmissbrauch hinaus zu einem extrem präsenten Begriff geworden ist. Er taucht überall auf, jeder scheint etwas damit verbinden zu können. Fast so, also ob ein persönliches Trauma Identität stiftet, markiert es eine zeitgenössische Existenzweise der Menschen, die sich, ihrer Herkunft nicht sicher, unklar durch die Gegenwart bewegen. Nur durch die Konstruktion eines Traumas und dessen Bezug zur Körperlichkeit scheint sich ein Sinn finden zu lassen, eine Bedeutung, die dem Leben eine Lebensgeschichte gibt. Das kann man im Kino deutlich nachvollziehen. Man könnte das Kino, besonders das kommerzielle, immer auch als ein klassisches Symptom am Sozialkörper verstehen.
Wie kommt es denn, dass der Trauma-Begriff solche Relevanz beanspruchen kann?
Meine Hypothese ist, dass das Trauma eine Lücke füllt. In den Geisteswissenschaften die Lücke, die der Dekonstruktivismus hinterlässt, der die Referenzlosigkeit außerhalb des Textes postuliert; in den Geschichtswissenschaften die Lücke des angeblichen Verlusts von historischem Bewusstsein; in der Spaßgesellschaft den Überhang an Fantasie und den Verlust an Realitätssinn. Dem steht in der populären Kultur und den Medien ein wahrer Geschichtsfetischismus gegenüber, eine Informationsmasse an Biografien, Memoiren, Zeitzeugnissen. Geschichte ist ein großes Geschäft geworden. Auf beide Extreme antwortet das Trauma, quasi als Kompromiss. Es ist eine Art der Referenz, die durch das Subjekt geschaffen wurde, ihm aber nicht vollkommen präsent ist. Diese Referenz wird nicht nur dem Text, sondern auch dem Körper eingeschrieben.
Aber wir sind doch in den letzten Jahren stärker denn je in unsere Geschichte zurückgeworfen worden.
Ob nun die Geschichte des Holocaust immer wieder zurückkehrt, ob es die Amerikaner sind, die bewusst mit ihren internationalen Interventionen Geschichte betreiben oder ob es die neue Verbindung zwischen Ost- und Westeuropa ist: Es ist keine Wiederkehr des Verdrängten, wie bei Freud, sondern eher eine Heimsuchung. Die Rückkehr hat ja zumindest den positiven Effekt, dass das Verdrängte dann wieder zu Hause ist. Aber beim Trauma weiß man nicht, wann es zuschlägt. Dieser Risikofaktor gehört ja wieder mehr denn je zu unserem Leben. Wie können wir uns dagegen wappnen? Wie können wir damit leben, dass Risiken jederzeit auftreten? Mittlerweile scheint sich jeder – von der Hochkultur bis zu den Talkshows im Fernsehen – in diesem Begriff des Traumas und dessen Heimsuchungs- und Überlebensgefühlen wiederzuerkennen.
Das Filmgenre, das als das freudsche per se gilt, hat in den letzten 20 Jahren ein beachtliches Comeback gefeiert: der Film Noir beziehungsweise der Neo Noir.
Alle benutzen diesen Begriff seit „Blade Runner“, ich würde aber noch etwas früher anfangen, bei „Chinatown“. Das ist vielleicht auch mein Lieblingsfilm aus dieser Zeit. Hier werden die sonst dem Film Noir immanenten Strukturen und Themen, das Inzest-Trauma und der „genießende“ Über-Vater zum Beispiel, so sehr nach außen gekehrt, dass sie für jeden sichtbar werden. Was früher der blinde Fleck war, der alles zusammenhält, tritt nun offen zutage. Es gibt kein verborgenes Unbewusstes mehr, das unser Handeln heimlich steuert. Deswegen kann es auch kein Happy End geben, alle Figuren scheinen fast selbst zu wissen, worauf es hinausläuft. Hintergrund und Vordergrund haben sich quasi umgedreht. Dieses Mehr an Wissen im Neo Noir bringt aber keine Erleuchtung.
Aber es gibt auch den Helden, der nichts weiß, weil er seine Erinnerung verloren hat – etwa in Christopher Nolans „Memento“.
„Memento“ ist ein besonders interessanter Film, der zeigt, wie sich die „Post Mortem“-Tendenz im neuen Jahrtausend zuspitzt. Er arbeitet mit sehr vertrauten Motiven des Film Noir, mit Gedächtnislosigkeit. Dieses Motiv fiel früher oft mit der Rückkehr des Protagonisten aus dem 2. Weltkrieg zusammen. „Memento“ hat den Film Noir aber durch seine Manipulation der Zeit belebt. Der Film läuft rückwärts, es gibt verschiedene Zeitebenen für Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis, das ist sehr ausgeklügelt, auch der Wechsel Schwarzweiß und Farbe markiert Zeitbrüche. Und mittendrin steht ein Held, der etwas Unmögliches versucht. Denn er will Rache nehmen, für etwas, an das er sich nicht erinnern kann. Und das bedeutet, dass die Rache zur Endlosschleife wird, wo sie doch eigentlich der Schlusspunkt eines verletzten Gerechtigkeitsgefühls sein soll.
So dass es keine Erlösung geben kann.
No more closure: Was den Film brillant macht, ist, dass er das Motiv der Rache nimmt, das tief im Kino verwurzelt ist, und dessen dramatischen Bogen nutzt, um daraus eine Gegenlogik zu konstruieren, die auch essenziell zum Kino gehört: das Band oder der Filmstreifen ohne Ende. Die Rache wird ausgeführt, mit allen Hindernissen, die ihr im Wege liegen. Dann müsste es eigentlich ein Gleichgewicht geben, wenn Rache und Tat sich in einer besonderen Weise entsprechen. Wenn aber diese Möglichkeit des Gleichgewichts nicht mehr gegeben ist, weil der gedächtnislose Held die Genugtuung nicht reflektieren kann, wird die Rache der Ästhetik der poetischen Gerechtigkeit und der Ethik der Tat beraubt. Die Geschichts- und Gedächtnislosigkeit des Helden macht diese Möglichkeit zunichte, und so wird der Rächer zum Psychopathen.
Ist „Memento“ überhaupt ein Film Noir?
Der Protagonist des Filmes hält sich in seiner Schwerelosigkeit in der Zeit an dem Glauben fest, er sei die Figur des Detektivs in einem Film Noir. Eigentlich ist das Bewusstsein des Film Noir nur eine Zwischenschicht, die etwas anderes hinter sich verbirgt. Dieses Andere kann man verschieden verarbeiten. Einerseits muss der Protagonist sich als Detektiv und Rächer denken, weil er womöglich selbst der Täter ist. Er war ja wohl derjenige, der seiner Frau doppelt Insulin gespritzt hat und sie somit umgebracht hat. So kann man das sehen, wenn man nachher als therapierter Zuschauer aus dem Film kommen will und wissen muss, was nun „wirklich“ passiert ist. Dann wäre da der psychoanalytisch geschulte Zuschauer, der mit der im Film aufgezeigten Diskrepanz von Bewusstem und Unbewusstem leben kann. Darunter wäre der für „Post-Mortem“-Subjekte empfängliche Zuschauer, der Foucault gelesen hat und weiß, wie die Kontrollgesellschaft uns für die heutige Welt fit macht und hält. Unterhalb unserer eigenen Subjektivität und Individualität, unseres Bewusstseins und unserer Urteilskraft spricht sie uns an als neurales Netzwerk der bio power, funktionierend im Regelwerk von Reaktion, Trauma und dem Überleben post mortem, bei dem das Langzeitgedächtnis eigentlich nur noch Störfaktor wäre. Neo-Noir-Filme sind so etwas wie die populärkulturellen Allegorien oder Symptomatologien dieser Kontrollgesellschaft.