Auf den Spuren jüdischen Lebens: Gedenkmarathon mit der BVG
„Arischen und nichtarischen Kindern wird das Spielen miteinander untersagt“, steht auf einem Schild, das vor dem Spielplatz in der Salzburger Straße an einem Laternenpfosten hängt. Insgesamt 80 solcher Schilder mit Verordnungen aus dem Dritten Reich hat das Künstlerpaar Renata Stih und Frieder Schnock schon Anfang der 90er-Jahre in den Straßen rund um den Bayerischen Platz angebracht. Nicht diskriminieren sollen sie, sondern an die zahlreichen jüdischen Familien erinnern, die hier früher lebten.
Das Bayerische Viertel in Schöneberg ist die erste Station der Rundfahrt zu „Jüdischen Meilensteinen in Berlin“ im Rahmen des Touristikprogramms der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). „Vor dem Zweiten Weltkrieg nannte man das Viertel in ganz Berlin Jüdische Schweiz. Über 16.000 Juden wohnten hier, darunter viele Intellektuelle. 6.000 von ihnen wurden im Dritten Reich deportiert“, berichtet Dov Galmor-Geier. Seit sechs Jahren bietet der 57-jährige Israeli Führungen durch die Heimatstadt seiner Eltern an. Sie konnten gerade noch rechtzeitig ins damalige Palästina emigrieren.
Viele der 18 Teilnehmer dieser BVG-Tour sind in Galmor-Geiers Alter, die meisten kommen aus Berlin. So wie Marianne Schmidt, die gemeinsam mit zwei Freundinnen aus Charlottenburg an der Rundfahrt teilnimmt. „Für das Thema interessiere ich mich schon länger. Aber manchmal braucht man einen Anlass, um solche Orte aufzusuchen“, sagt die Neuköllnerin.
Zum nächsten Mal hält der Reisebus am Hermann-Ehlers-Platz in Steglitz. Inmitten von Marktständen prangt hier die 9 Meter lange und 3,5 Meter hohe so genannte Spiegelwand. „Wir haben Glück“, freut sich Galmor-Geier. „Heute ist Leben auf dem Platz. An anderen Tagen fehlt die Spiegelung des Alltäglichen, auf die es den Initiatoren ankam“, erklärt er. 1.723 Namen sind in die blank polierte Metallwand eingraviert, die vor zehn Jahren gegen den Willen der CDU, der FDP und der „Republikaner“ errichtet wurde: die Namen jener Steglitzer Juden, die im Dritten Reich deportiert wurden.
Am 27. März 1945 – kurz vor Kriegsende – wurden am S-Bahnhof Grunewald, der dritten Station der Rundfahrt, zum letzten Mal Juden deportiert. An Gleis 17 wird der 50.000 Berliner Juden gedacht, die zwischen 1941 und 1945 in Güterwaggons unter anderem nach Theresienstadt und Auschwitz verbracht wurden.
Keiner der Teilnehmer der Rundfahrt spricht. Galmor-Geier versucht, den Umstehenden das Unbehagen zu nehmen: „Alle Israeli, die ich an Orte wie diesen bringe, haben großen Respekt vor dem Mut der Deutschen, an so vielen Orten auf so schreckliche Ereignisse hinzuweisen.“ Er legt Wert darauf, auch von jenen Deutschen zu erzählen, die nicht widerstandslos hinnahmen, was das Regime beschloss. Wie zum Beispiel von jenen Frauen, die in der Rosenstraße, der vierten Station der Rundfahrt, ihre jüdischen Ehemänner durch tagelangen Protest vor der Deportation retteten. Oder von dem Fabrikanten Otto Weidt, dem es Anfang der 40er-Jahre gelang, die blinden und gehörlosen jüdischen Angestellten seiner Besen-und Bürstenbinderei in Mitte vor der Verfolgung durch die Nazis zu bewahren. Heute wird Weidt in der israelischen Gedenkstätte Jad Vaschem als „ein Gerechter unter den Völkern“ geehrt.
Gerne würden sich die Teilnehmer noch länger in den Räumen der ehemaligen Blindenwerkstatt umsehen, aber die Zeit drängt. Letzte Station ist eine Grünfläche in der Großen Hamburger Straße. Nur der Grabstein des Aufklärers Moses Mendelssohn erinnert daran, dass sich hier einst der erste jüdische Friedhof Berlins befand. Offiziell endet die Rundfahrt hier. Über drei Stunden sind vergangen, aber Marianne Schmidt und ihre Freundinnen wollen noch weiter, zur Neuen Synagoge, an der sie zuvor vorbeigefahren sind.
Besonders beeindruckt hat die 57-jährige Berlinerin Galmor-Geiers Art, Geschichte zu vermitteln. „Er hat durch den Holocaust zwar selbst Verwandte verloren, von Schuldzuweisungen aber abgesehen“, betont sie. Bald wird er auch Schulklassen zu jenen Orten führen: Kinder unterschiedlichen Glaubens, Kinder, die damals nicht miteinander hätten spielen dürfen. NICOLE WELGEN
Die nächsten BVG-Rundfahrten zum Thema finden am 12. und 19. Mai statt. Buchungshotline: (0 30) 25 62 63 71. Ein von Studenten der Technischen Universität gedrehter Dokumentarfilm über die Blindenwerkstatt Otto Weidt hat am 11. Mai um 12 Uhr im Kino Central in Mitte Premiere
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