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Instrument der politischen Debatte

MOTIV Sozialneid soll Brandstifter André H. zu seinen Taten getrieben haben. Aber was ist das eigentlich? Die taz hat nachgefragt: Wissenschaftler meiden den Begriff, ein Anwalt sieht niedere Beweggründe

Wer neidisch ist, gilt als Unsympath – auch wenn er womöglich gesellschaftliche Probleme beklagt

Sozialneid hat André H. nach Ansicht der Staatsanwaltschaft dazu getrieben, nachts um die Häuser zu ziehen und Autos in Brand zu setzen. Auf den ersten Blick scheint das schlüssig: Wer selbst nichts hat, gönnt auch keinem andern etwas. Und je größer das Gefühl der persönlichen Minderwertigkeit, desto stärker der Neid auf Menschen, die es besser haben.

Den Eliteforscher Michael Hartmann überzeugt dieses Motiv jedoch nicht. Ihm zufolge sind Sozialneider in erster Linie ein Medienphänomen, das Anfang der nuller Jahre aufkam. Und eine dankbare Pauschalisierung für alle, die sich der Diskussion über soziale Gerechtigkeit entziehen wollen. Denn: Wer neidisch ist, gilt als Unsympath, auch wenn er gesellschaftliche Probleme beklagt. „Meines Erachtens nach handelte der Angeklagte eher aus einem Gefühl der Wut und Ungerechtigkeit heraus“, sagt der Soziologe.

Entgegen der verbreiteten Auffassung trete Sozialneid zudem nicht zwischen verschiedenen Gesellschaftsschichten auf: „Den Neid der Hartz-IV-Empfänger auf Millionäre gibt es fast nie“, so Hartmann. „Er kommt viel eher zwischen sozial benachbarten Gruppen vor.“ Wenn bei Managern die Einkommen steigen und sich sozial Schwächere darüber beklagen, sei das kein Ausdruck von Neid, sondern von Gerechtigkeitsempfinden.

Auch die Psychologin Kerstin Becker, die an der FU zum Phänomen des Neids forscht, sieht das Konzept Sozialneid als problematisch: „Sozialneid ist eigentlich ein Paradoxon, denn Neid ist als zwischenmenschliches Verhältnis immer sozial.“

Sie stimmt Hartmann zu: Auch psychologisch betrachtet, sei Sozialneid weniger ein individuelles Persönlichkeitsmerkmal als eher ein Instrument der politischen Debatte: „Auch wenn Sozialneid oft auf Minderwertigkeitsgefühle zurückgeführt werden kann, ist er nicht nur eine persönliche Schwäche, sondern auch Ausdruck realer gesellschaftlicher Probleme“, sagt Becker. Das gelte gerade in Berlin, wo die Unterschiede zwischen Arm und Reich besonders spürbar und sichtbar seien.

Juristisch gesehen, habe der Begriff keine gesellschaftliche oder politische Dimension, sagt Rainer Frank, Fachanwalt für Strafrecht: Nach seiner Auffassung gehört Sozialneid in die Kategorie „niedere Beweggründe“, wie Rache oder Habgier. Frank erwartet daher, dass sich dieses Motiv eher strafverschärfend als strafmildernd auswirken wird.

MALENE GÜRGEN, JOANNA ITZEK

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