„Die Deutschen haben eine Nazi-Obsession“

Der 8. Mai und keine Ende: In Deutschland hat sich eine Holocaust-Gedenkkultur etabliert, die sich selbst genügt.Dort wird oft eine dunkle, mystifizierte Vergangenheit beschworen – um sich die Gegenwart vom Leib zu halten

taz: Herr Bodemann, die Gedenkinszenierungen zum 60. Jahrestag des 8. Mai sind vorbei. Waren es zu viele?

Y. Michal Bodemann: Es gab international ungeheuer viele Veranstaltungen. Auch in Nordamerika. Hier in Kanada wurde zum Beispiel tagelang gefeiert, dass Kanadier die Niederlande befreit haben. Zum Teil haben wir es wohl mit einer Wiederentdeckung der Geschichte zu tun. Deutschland ist aber ein Sonderfall …

Kein Wunder …

Nein. Aber in Deutschland scheint gewissermaßen dauernd 8. Mai zu sein. Es herrscht eine Vergangenheitsobsession, die immer stärker wird.

Ist das so erstaunlich?

Ich finde schon. Es ist ja nicht nur die Menge der Gedenkinszenierungen, der Filme, Ausstellungen, Mahnmale usw., es ist nicht nur, dass es dieses Gedenken permanent gibt. Irritierend finde ich das Vergrübelte, Abgeschlossene dabei. Dies ist eben keine Beschäftigung mit Geschichte, die Lehren für das Heute mit einschließt. Ich habe den Eindruck, dass in Deutschland die NS-Zeit oft als eine ferne, mystifizierte, dunkle Vergangenheit beschworen wird, die als Fluchtwinkel vor der Gegenwart dient. Deshalb scheut man Parallelen zur Gegenwart.

Was wäre denn ein legitimer Vergleich mit der Gegenwart?

Allgemein gesprochen fehlt mir der Bezug zwischen Antisemitismus und Rassismus. Es gibt doch in Deutschland aktuell rassistische Tendenzen – etwa in dem Gerede von der Parallelgesellschaft, in die sich die türkische Minorität angeblich zurückgezogen hat. Selbst wo diese Beschreibung stimmen sollte – die Muslime sind doch in die Ghettos gedrängt worden.

Wohl beides.

Ja, natürlich. Die Frage ist, was hat die Ghettoisierung ausgelöst. Aber mich stört, dass auf immer mehr Gedenkveranstaltungen der alte Antisemitismus, der nach Auschwitz geführt hat, verurteilt wird – ohne dass es ein geschärftes Bewusstsein für den Rassismus heute gibt. Rassismus gegen Muslime gilt als nicht so schlimm. Auch der neue Antisemitismus wird heruntergespielt. Gleichzeitig wird der Holocaust immer stärker isoliert betrachtet. Er gilt als so einzigartig, dass es obszön erscheint, ihn auf heute zu beziehen.

Aber der Holocaust war singulär …

Das bestreite ich nicht im Mindesten. Mir geht es nicht darum, die Monstrosität der NS-Verbrechen zu verkleinern. Aber wieso folgert daraus eine Gedenkkultur, die nur um sich selbst kreist?

Fischer und Struck haben 1999 den Bundeswehreinsatz im Kosovokrieg damit gerechtfertigt, man müsse ein neuerliches Auschwitz verhindern. Das Problem dabei ist aber: Wer Auschwitz sagt, beendet die Debatte. Ist es ein Fortschritt, wenn Auschwitz kein Legitimationsinstrument in aktuellen politischen Fragen ist?

Auf jeden Fall. Mir geht es nicht um NS-Vergleiche zwecks politischer Legitimation. Ich wünsche mir, dass aus der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus eine Haltung folgt – etwa dass man sich heute für die Geltung von Menschenrechten einsetzt. Ein Beispiel ist Guantánamo. Natürlich ist Guantánamo kein Vernichtungslager, aber man muss es als Konzentrationslager betrachten. Ein westlicher zivilisierter Staat wendet Folter an und unterhält ein KZ. Aber wenn man dies in Deutschland 2005 zaghaft ausspricht, erntet man Empörung. Mein Eindruck ist: Man verkriecht sich in die Geschichte, um sich die Gegenwart vom Leib zu halten.

Viele wundern sich, dass das Gedenken immer mehr wird. Warum ist das so?

Drei Gründe: Es gibt heute einfach die Apparate und eine Vielzahl von Institutionen, die Gedenken produzieren. Die Medien berichten, die Aufmerksamkeit wird geweckt etc. Zweitens: Das Gedenken an Auschwitz ist Teil der nationalen deutschen Identität geworden. Gedenken ist ein Reinigungsritual, um mit der Schuld umzugehen. Das Berliner Holocaust-Mahnmal dient ja nicht nur der Erinnerung. Es ist auch das Symbol für einen Trennungsstrich: Das war damals, es ist vorbei, abgespalten, es hat mit uns heute nichts mehr zu tun. Dieser Prozess muss immer wieder wiederholt werden: Eigentlich wissen wir ja alles über die NS-Zeit – trotzdem werden immer wieder Events inszeniert.

Ist das die Dialektik von Vergessen und Erinnern?

Ja. Das dritte Motiv scheint mir das Verschwinden von Zukunftsideen zu sein, von Utopien, wie man früher sagte. Weil man von der Zukunft nichts Gutes erwartet, fixiert man sich auf die Vergangenheit. Die Ikone für diesen Gemütszustand ist Walter Benjamins Engel der Geschichte, der der Vergangenheit zugewandt in die Zukunft schreitet. Dass dieses Bild in Deutschland so inflationär gebraucht wird, ist kein Zufall: Es reflektiert das Resignative, Melancholische. Wäre es nicht besser, mehr nach vorne zu blicken, neue Gesellschaftsentwürfe zu schaffen und zumindest etwas mehr soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde?INTERVIEW: STEFAN REINECKE