: Ausgewandert kurz darauf
DIE AUFTAKTFOLGE Mit Christine hat das Projekt begonnen: Vor einem Jahr arbeitete sie im Goldenen Hahn in Kreuzberg. Danach zog es sie nach Irland. Ihre Wohnung in Berlin wollte sie aber behalten
Mit DJane Mary Jane auf Reisen, mit dem Obdachlosen Gero auf der Parkbank, mit der Kosmetologin Özcan in der Schönheitsklinik: In unserem audiovisuellen Stadtmosaik „berlinfolgen“ haben wir 52 Menschen porträtiert. Die Reihe erscheint seit einem Jahr auf taz.de und ist eine Koproduktion mit 2470media. Wir haben uns auf die Suche nach Menschen aus Berlin gemacht, die nicht in der Öffentlichkeit stehen, ungewöhnliche Leidenschaften haben und Dinge tun, über die man gern mehr wissen möchte. Damit es die zweite Staffel „berlinfolgen“ geben kann, brauchen wir Ihre Unterstützung. Wie? Das finden Sie unter startnext.de/berlinfolgen. Heute zeigen wir eine Auswahl aus 160 Minuten „berlinfolgen“ der ersten Staffel: 18 Uhr im taz Café, Rudi-Dutschke-Straße 23. Alle „berlinfolgen“ unter taz.de/berlinfolgen.
Der Goldene Hahn am Heinrichplatz ist so ziemlich der beste Ort, um runterzukommen. Um nicht alles so wichtig zu nehmen, was einem sonst schlaflose Nächte bereitet. An einem Freitagabend vor ziemlich genau einem Jahr wirbelte hinter der Theke eine blonde Frau, wies immer wieder Gäste lautstark zurecht und schmetterte jegliche Musikwünsche oder -beschwerden ab. Sie rauchte, trank, reichte Sekt über den Tresen mit den Worten: „Das trinkt hier nie jemand, macht bestimmt Kopfschmerzen!“ Sie hatte den Laden im Griff. Sie tanzte, sang und lachte laut – ihre Körpersprache und ihre Stimme gaben den Takt im Laden an, es war ihr Abend.
Sogleich geerdet
Jeder, der reinkam, wurde von Christine lauthals begrüßt, jeder, der reinstürmte, sogleich geerdet. Sie war gut, sehr gut. Zunächst war sie skeptisch, ließ sich aber darauf ein, interviewt und fotografisch begleitet zu werden. Allerdings verkündete sie, dass sie auf dem Sprung sei und Berlin demnächst verlassen werde, um in Irland in einem kleinen Landhotel zu arbeiten.
Egal, sie sollte es sein. Das Interview dauerte zweieinhalb Stunden – viel zu lang, um daraus eine Zweieinhalb-Minuten-Geschichte zu machen. Seitdem dürfen die Interviews nur noch eine halbe Stunde dauern, maximal, sonst ist die anschließende Arbeit am Schnitt einfach nicht zu schaffen. Aber es hatte sich gelohnt: Das Interview gab viel her, viele starke Sätze, viele Anekdoten, viel Reflexion.
Sie erzählte, dass sie in ihrem Leben schon oft die Sachen gepackt hatte und abgehauen war. Mit Anfang zwanzig tourte sie durch Südamerika, kam immer nur mal wieder zurück, um zu jobben und Geld fürs Reisen zu sparen; dass sie zwar Industriekauffrau gelernt hatte, ihr dieser Beruf aber die Luft nahm; dass sie stattdessen als Übersetzerin, Putzfrau, Kindermädchen und Thekenkraft gearbeitet hat; und dass ihr der Goldene Hahn in den vergangenen drei Jahren eine Heimat geworden war: „Da kriege ich so viel Liebe in dem Laden, es ist unglaublich.“
Aber jetzt musste sie weg. Die Nächte im Goldenen Hahn waren zu lang, der Rauch und der Alkohol zu ungesund. Sie konnte es kaum erwarten, in Irland frische Luft zu atmen und draußen zu sein. Ihre Wohnung in Kreuzberg hat sie behalten – Berlin ist ihr Zuhause, wird es immer bleiben.
Christine wurde die erste berlinfolgen-Protagonistin: „Die Aussteigerin“. Die Bilder von ihrer Abschiedsparty im Goldenen Hahn sind großartig, ihre Stimme toll und schließlich gehört es auch zu Berlin, dass Leute weggehen. Und wiederkommen. Oder auch nicht. FRAUKE BÖGER