: Die verlorene religiöse Ehre
MISSBRAUCH Vorwürfe von sexueller Gewalt in iranischen Gefängnissen locken religiöse Instanzen aus der Reserve
VON BAHMAN NIRUMAND
Nach offiziellen Angaben waren bei den Protestdemonstrationen gegen die Wahlfälschung rund 4.000 Personen festgenommen worden, von denen ein großer Teil inzwischen wieder freigelassen ist. Die Zahl der Toten wird mit 30 angegeben, die Opposition hat dagegen genaue Daten mit Fotos von 69 Opfern, die wir hier namentlich aufführen. Sie sind nachweislich im Gefängnis gestorben. Eine vom Oppositionsführer Mir Hossein Mussawi eingesetzte Untersuchungskommission hat die Liste am Montag dem Parlament übergeben. Die tatsächliche Zahl der Toten wird von Menschenrechtsorganisationen weit höher geschätzt.
Die Reformpartei Mudschaheddin der Islamischen Revolution hat in einer Stellungnahme, die am Mittwoch auf ihrer Webseite erschien, die schweren Misshandlungen in den iranischen Gefängnissen mit denen im berüchtigten Gefängnis Abu Ghraib verglichen und Staatspräsident Mahmud Ahmadinedschad für den Tod zahlreicher Regimekritiker verantwortlich gemacht. Schon am Sonntag hatte der bei der Präsidentenwahl vom 12. Juni unterlegene Kandidat Mehdi Karrubi erklärt, junge Frauen und Männer seien im Gefängnis brutal vergewaltigt und gefoltert worden.
Das islamische Parlament hat zur Beruhigung der Gemüter eine Untersuchungskommission einberufen. Schon nach wenigen Tagen erklärte der Leiter der Kommission seinen Rücktritt, weil die bestehenden Umstände eine objektive Untersuchung der Vorfälle nicht zuließen.
Einige entlassene Häftlinge haben inzwischen den Drohungen des Regimes zum Trotz ihre Erlebnisse und Beobachtungen öffentlich gemacht (siehe unten).
Indes hat Irans Polizeichef Misshandlungen von Inhaftierten in den Gefängnissen eingeräumt. Es bestritt jedoch, dass die Gefangenen zu Tode gefoltert worden seien. Die Todesfälle seien auf eine Viruserkrankung zurückzuführen. Auch Justizsprecher Aliresa Dschamschidi gab zu, dass im berüchtigten Gefängnis Kahrisak, das inzwischen auf Anordnung des Revolutionsführers Ali Chamenei geschlossen worden ist, „Verstöße“ vorgekommen seien, für die die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden sollen. Einige seien bereits aus ihrem Amt entlassen worden. Auf die Frage, warum der Aufenthaltsort mancher Gefangener nicht bekannt gegeben worden sei, sagte er, dem Strafgesetzbuch nach sei die Bekanntgabe vor dem Urteil nicht erforderlich.
Parlamentspräsident Ali Laridschani bezeichnete am Dienstag die Vorwürfe, wonach Inhaftierte sexuell misshandelt worden seien, als Lüge. Bei Untersuchungen in zwei Gefängnissen seien keine Anzeichen von sexuellen Übergriffen festgestellt worden. Er warnte die Opposition davor, nicht belegbare Vorwürfe zu erheben. Sie würden von ausländischen Medien und Feinden der Islamischen Republik ausgenutzt. Dennoch wolle das Parlament den Vorwürfen nachgehen, sagte Laridschani.
Die Nachrichten über Misshandlungen und die weiteren Fälle, die nach und nach mit Hilfe von entlassenen Häftlingen ans Tageslicht kommen, haben die Grundpfeiler des Regimes schwer erschüttert. Das Regime, das den Anspruch auf moralische Instanz erhebt und mit seiner Sittenpolizei seit Jahren Ehebrüche und sexuelle Straftaten verfolgen lässt und sie auch mit dem Tode bestraft, hat seine Legitimation auch unter eigenen Anhängern schwer eingebüßt.
Die Verbrechen haben sogar manche religiöse Instanzen aus der Reserve gelockt. Ajatollah Ali Mohammad Dastgheib, Mitglied des Expertenrats forderte den Rat auf, sich um die „Nöte und Klagen“ der Bevölkerung zu kümmern und Karrubi und Mussawi zu einer Anhörung einzuladen. Er warnte, „ehe es zu spät ist und die Ehre der islamischen Instanzen vollends verloren ist“, einzuschreiten und dem Treiben Einhalt zu gebieten.
All dies scheint jedoch die Machthaber nicht zu beeindrucken. Letzte Woche haben die Revolutionswächter, die offenbar inzwischen die Lenkung des islamischen Staates übernommen haben, erklärt, sie wollen Karrubi und Mussawi sowie den ehemaligen Staatspräsidenten Mohammad Chatami vor Gericht stellen. Sie seien die Hauptverdächtigen hinter den Protesten, sagte Jadollah Dschawani, ein hochrangiger Befehlshaber der Garden. Die Unruhen seien mit deren Hilfe und der Unterstützung westlicher Geheimdienste gewesen, um eine „sanfte Revolution“ durchzuführen.