: Jesus an Bord
Im hamburgischen Stadtteil Rothenburgsort liegt mit der Flussschifferkirche das einzige schwimmende Gotteshaus Deutschlands. Noch – denn die Besucher sterben aus und Geld ist knapp
Aus Hamburg Jan Freitag
Nein, stolz liegt sie nicht am Kai. Eher schon etwas verloren, umringt von den Schloten der Müllverbrennungsanlage und dem weltweit modernsten Kohlekraftwerk gegenüber. Mit seiner chromglänzenden Silhouette wirkt das Kraftwerk wie ein Angriff auf alles Althergebrachte – auch auf die Flussschifferkirche. In schlichtem Grünweiß dümpelt sie am eher trostlosen Steinufer von Rothenburgsort, einem Hamburger Stadtteil östlich der Innenstadt. Davor, zwischen dem Discounter Lidl und der Elbe, spielen zwei Jungs mit Plastik-Uzis Krieg.
Frank Engelbrecht blickt skeptisch von der Reling zur Wasserkante. Profane Ballerei am geweihten Ort, und sei es nur zum Spaß, das stört den Pastor von Deutschlands einzigem schwimmenden Gotteshaus. Dann hellt sich seine Miene auf. Besucher. Ein Paar im Rentenalter stapft den langen Steg hinunter und der Prediger begrüßt die beiden mit Namen und Handschlag. „Heut machen wir fix“, ruft er ihnen lachend in den Schiffsrumpf hinterher und fügt leiser hinzu: „Die Leute jiepern nach Kaffee und Kuchen.“ Etwas Bestechung – der Seelsorger würde sagen: Gemeinschaftspflege – muss schon sein, um die Kirche in der Billwerder Bucht mit Menschen, Gläubigen, Sonntagnachmittagsgästen zu füllen.
An diesem Frühlingstag dringt grelles Sonnenlicht durch die getönten Scheiben und Pastor Frank Engelbrecht weiß, dass die Gottesdienstteilnehmer heute mehr Lust auf Klönschnack als auf Bibelverse haben. Mit seinen 40 Jahren senkt er den Altersdurchschnitt erheblich. Mit seiner Lockenmähne erinnert Frank Engelbrecht trotz Talar und Halskrause eher an den Sportreporter Michael Steinbrecher als an einen Verkünder heiliger Worte. Das Gotteshaus: Stühle statt Bänken, viel Licht, wenig Pomp, eine winzige Orgel und als Wandschmuck dient ein Jesusrelief überm Altar – natürlich eine Fischerszene. Ein letztes Lied, das Glaubensbekenntnis, Amen, rein mit der Kaffeetafel. „Ach, wir sind doch gut besucht“, sagt er später mit dampfender Tasse in der Hand. 130 Personen hätten Platz in dem umgebauten Frachter. 25 sind gekommen.
99 Jahre alt ist der „Weserleichter“, beinahe wäre er ausgemustert worden. Vor zwei Jahren war der alte Pastor nach einem Schwächeanfall in die Elbe gerutscht und ertrunken. Einen Nachfolger sah die evangelisch-lutherische Kirche nicht vor. So schien das 51. Jahr seit der Weihung zur Schiffskirche auch ihr letztes zu sein. „Aber die Gemeinde hat gekämpft“, sagt Engelbrecht stolz. Die Umsitzenden sehen von ihren Kuchen auf und nicken eifrig. Es sind alternde Kapitäne, einstige Eigner und Matrosen a.D., die zur sonntäglichen Predigt auf den 26 Meter langen Kahn mit dem klitzekleinen Glockenturm kommen.
Aber auch Bewohner des angrenzenden Seniorenheims und andere Nachbarn sind regelmäßig an Bord. Frank Engelbrechts Kundschaft hat in der Regel zwei Dinge gemeinsam: fortgeschrittenes Alter und unbeirrbare Treue. Aus allen Hamburger Himmelsrichtungen kommen sie, einer sogar extra aus Lauenburg. „Ich wurde hier konfirmiert, hab hier geheiratet, den Nachwuchs hier taufen lassen“, erklärt Heinz Hensel seine Verbundenheit mit der schwimmenden Kirche. „Hier krieg ich auch meine letzte Ölung“, sagt der 67-Jährige.
Auf der Elbe unterwegs ist der Frachter allerdings nur noch zum Hafengeburtstag. An den anderen Tagen sorgt die kleinere Barkasse „Johann Hinrich Wichern“ für geistliche Mobilität. „Satte 90 PS, die bringen uns durch jeden Hafen“, sagt Rolf Fliegner, Vorstandsmitglied der Flussschiffergemeinde. Während die Kirche sonst auf die Gläubigen warte, „fahren wir hin“. Ehrenamtlich. Mehrmals die Woche, auf große Pötte und kleine Boote, zu den Zöllnern, Hafenmeistern, Docks oder Reeden. „Aufsuchende Seelsorge“ nennt das der kantige Mann mit dem maritimen Ahab-Bart in stahlgrau. Um die „Wichern“ dem einst riesigen Heer hansestädtischer Flussschiffer zukommen zu lassen, hat sie deren Namenspatron vor 135 Jahren ins Leben gerufen. Und wenn Pastor Engelbrecht wie an diesem Tag für die Gemeinde St. Katharinen zu tun hat, fährt eben Rolf Fliegner die Elbe runter Richtung Speicherstadt, Övelgönne, Finkenwerder. Je nach Tide, Lust und Strömung, stets auf der Suche nach sorgebedürftigen Seelen. Die kommen immer seltener an Bord, meistens stehen sie am Ufer und winken.
Zielsicher lenkt Küster Rudolf Wenck, auch er bärtig wie ein Seebär, das Boot durch menschenleere Kanäle. Links der Großmarkt, rechts die künftige Hafencity, niemand ist zu sehen. Nahe der Innenstadt, wo sich die großen Kirchen auftürmen, schaffen wenigstens einige Hafenarbeiter. Winken. Die frühere Howaldtswerft. Winken. Der Köhlbrand. Wieder Winken. Ein Tourist filmt. „Wir sind auch Werbeträger der Institution Kirche“, entschuldigt Rolf Fliegner das Ritual.
Manchmal mache man auch an einem Containerriesen oder Öltanker unter exotischer Flagge fest. Philippinos sei es egal, ob christlicher Beistand in der Fremde katholisch oder sonstwie ist, erklärt Fliegner. „Die sehen unsere Flagge“, weißes Ankerkreuz auf blauem Grund, „und freuen sich über nette Worte.“ Davon sind heute mangels Empfänger keine nötig. An der Zollstation wieder Winken. Kontaktpflege, nennt das Flegner. „Wir sind ja Teil des Hafens“. Nur wie lange noch, das steht in den Sternen.
Rund 30.000 Euro kostet der Unterhalt im Jahr. Für das volle Programm – von der Konfirmation über Altenheimbetreuung bis zur Christmette. Doch außer wenig Steuern und Spenden kommt nichts in die Kasse. „Das Geld reicht hinten und vorne nicht“, klagt Rolf Fliegner, „und es wird weniger“.
Für Abhilfe soll ein Umzug sorgen: In Kürze macht die Kirche am Baumwall fest, nahe der Landungsbrücken im Touristentrubel. „Wir haben nicht mehr die Substanz, Rothenburgsort aufzumischen“, sagt Pastor Engelbrecht beim Sonntagskaffee. Und eine ehemalige Matrosin, die sich in der Gemeinde engagiert, fürchtet, „dass es auseinander bricht, wenn wir weggehen“. Sie meint damit nicht nur die Schiffskirche. Sie meint die ganze Flussschifferei.