NORMALZEIT VON HELMUT HÖGE : Phantomschmerzen als Brandenburger Torheit
Ganz frei nach dem Motto: „Volker, schau auf diese Stadt!“ (Ernst Reuter)
Volker heißt heute meist Juan und gehört zu jenen Konsumtouristen, die alljährlich millionenfach in der Location „Berlin“ einfallen. Für die nächsten vierzig Jahre müssen die Eingeborenen sich nun die Frage gefallen lassen: „Wo war hier die Mauer?“
Vor 1989 karrten täglich rund 50 Busse die Touristen an die Mauer. Heute, da sie segmentweise in alle Welt verscherbelt wurde, gibt es idiotischerweise noch weitaus mehr Mauertouristen. Abgesehen von der Wiederauffrischung der peinlichen „East Side Gallery“, den noch peinlicheren Einfällen der ukrainischen Mauermuseums-Leiterin und den geradezu peinigenden Endlosporträts der Mauertoten in der Springerstiefelpresse, hat die Stadt sich bisher keine große Mühe gemacht, den Mauertouristen außer den Phantomschmerzen der Icke-Berliner, deren Familienbande die Kommunistenschweine einst mit ihrem Bauwerk brutal zerrissen, etwas zu bieten. Heuer, im Jubiläumsjahr ihrer Errichtung, machte man gerade mal lächerliche 80.000 Euro für einige diesbezügliche Kunststücke locker.
Die DDR war da ganz anders: Sie scheute keine Kosten und Mühen, um das seit 1961 „beste Grenzsicherungssystem der Welt“ ansprechender zu gestalten. Die Mauerexperten im „Mauer-Museum“ am Checkpoint Charlie, in dem alle Fluchtutensilien und „Zwischenfälle“ (192 mit tödlichem Ausgang) exponiert werden, sprachen zuletzt von einer „Mauer der vierten Generation: Triumph der Technik und Ästhetik – die neuen Bauelemente aus Beton sind so konstruiert, dass sie sich fugenlos und stabilisierend ineinanderfügen“ („Die Mauer spricht“, S. 20). Die ca. 164.000 Betonplatten der vierten Generation wurden dicker (16 cm), höher (4,10 m) und mit Rohrauflage gestaltet.
Besonders schlimm ist, dass den Westlern seit dem Mauerfall die Freiheit der Wahl ihres Deutschlands genommen wurde: Vor allem Terroristen, Dichter und Theaterregisseure empfinden dies als empfindliche Einengung ihrer Persönlichkeit – und tatsächlich ist Berlin seit 89 immer enger und scheußlicher geworden, vor allem wegen der ganzen neoliberalen Wichtigtuern aus dem Westen, die sich seitdem hier einwurmen.
Zwei Kunstprojekte halten nun dagegen: 1. die „Wanderboje“ von „Urban-Art“ und „Hauptstadtkulturfonds“: Sie treibt auf der Mauerroute und erzählt noch einmal die lustigsten Mauergeschichten – in Laufschrift.
Zweitens gibt es bis zum 9. November eine Ausstellung und Veranstaltungsreihe in der Zwinglikirche in der „Oberbaum-City“ über das Leben in Kreuzberg und Friedrichshain „Vor dem Fall der Mauer“, finanziert vom Bezirksmuseum dieses nunmehrigen Doppelbezirks, der als Einfallstor des juvenilen „Easy Jet“-Sets gilt, sodass man gespannt sein darf, ob diesem internationalen Amüsierpöbel nicht die Mauer-Phantomschmerzen der Icke-Berliner am Arsch vorbeigehen. Foto: Borrs