: Rettung in der Not
Kann aus dem „Non“ und dem „Nee“ sogar etwas Gutes erwachsen? Europas Denker sind sich nicht sicher. Das große Murmeln hat begonnen
VON ROBERT MISIK
Der klassische zukunftsfröhliche Fortschrittsoptimismus ist in den vergangenen Jahrzehnten gehörig aus der Mode gekommen. Von der Vernunft- über die Technik- bis zur Globalisierungskritik ist die Grundüberzeugung, dass das Morgen besser als das Heute würde, unter Generalverdacht geraten. Nicht erst seit Adorno wissen wir, dass der „Fortschritt von der Steinschleuder zur Megatonnenbombe“ eine Heilslehre ist, „Fortschrittsglaube“, der sich auf Realitäten nicht immer zu stützen vermag. Aber in einer Hinsicht hat sich die sture Gewissheit, aus dem Schlechten müsse doch das Gute folgen, dennoch gehalten: in der schwachen, Hölderlin’schen Fassung, wonach dort, wo die Not am größten sei, auch das Rettende wachse. Dass es nur reine, pure Not geben könnte, kein Rettendes aber naht – diese Vorstellung ist für Wesen wie unsereins offenbar ziemlich unerträglich.
So wird jetzt auch eifrig nach den möglichen positiven Effekten des französischen „Non“ und des niederländischen „Nee“ zur EU-Verfassung gefahndet, nach dem „Guten“, das daraus resultieren könnte. Jürgen Habermas, der sich in der gestrigen Süddeutschen auf die Suche begab, hatte naturgemäß Schwierigkeiten, fündig zu werden. Der strenge Denker ist dafür, was durchaus freundlich verstanden werden darf, nicht originell genug, es fehlt ihm an der Lust, scharfe Haken zu schlagen. Schließlich ist sein Projekt, der wirtschaftlichen Globalisierung ein transnationales Regieren nachwachsen zu lassen, das Politische nicht nur jenseits des Nationalstaats wiederzuerfinden, sondern auch noch demokratisch zu legitimieren, einigermaßen in Trümmer gelegt worden.
Dass er das zentrale Manko, das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit, schon immer beschworen hatte, macht die Sache um nichts besser. Unter den gegebenen Umständen hat das, was im Nationalstaat zu Überdruss führt, auch den Verdruss an der Europapolitik genährt – das Mantra an Alternativlosigkeit, dass es für alles nur eine Lösung gibt, die meist von neoliberalen Experten doziert wird. „Soweit sich die Wähler unterrepräsentiert fühlten, hatten sie einen guten Grund, gegen das oppositionslose Regime von Brüssel zu opponieren“ (Habermas).
Ziemlich abwegig scheint freilich, dass Habermas immer noch auf ein Kerneuropa hofft, das voranschreitet, während die anderen zaudern. Wie Kerneuropa ohne Frankreich denkbar ist, darüber verliert der Pontifex Maximus der Kritischen Theorie erstaunlicherweise kein Wort. Oder hält er es ohne Frankreich für vorstellbar? Hätte er uns schon sagen können. Jedenfalls, Deutschland soll dabei sein. Europa retten, dies ist für Habermas das letzte Projekt, für das sich die abtretenden 68er stark machen sollen. Würden sich Schröder und Fischer dafür noch einmal in die Riemen werfen, „ihr Abgang gewänne an Kontur“. Schön gedacht, lieb gehofft: „Manchmal wachsen aus dem Mut der Verzweiflung unvermutete Kräfte.“ Womit wir wieder bei Hölderlin wären.
Dabei gibt es gewiss ein paar positive Symptomatiken des Nein, insbesondere des französischen – denn, wie wir erleben mussten, ist Nein nicht immer gleich Nein, das politische Nein der Franzosen mit dem „romantischen Nein“ (Rem Kolhaas) der Niederländer keineswegs identisch. Die untergründige Botschaft des Nein ist, dass es eine Gier nach politischen Alternativen gibt. Insofern ist es Teil der Symptomatik, zu der etwa auch der Zuspruch gehört, den Franz Müntefering für seine Kapitalismuskritik erfuhr, oder die Hoffnung, die manche in eine neue Linkspartei setzen: dass das „Wählen ohne Wahl“ (Daniel Haufler und Ulrike Herrmann in der taz) ein Ende haben müsse.
Das Nein, hatte Jean Baudrillard schon vor der Abstimmung leicht verschwurbelt gemeint, sei kein Nein zu Europa, sondern ein Nein zu jenem allzu selbstverständlichen Ja, von dem die Europapolitiker ausgingen. Denn wenn es gleichsam ein Symbol dafür gibt, dass wir keine Wahl haben, dann sind das die Abstimmungen über die EU-Verfassung: ein Setting, in dem man nur „vernünftig“ absegnen oder „unvernünftig“ revoltieren kann. Abweichen ist zwar nicht verboten, aber wer es tut, schießt sich selbst ins Bein. Darum meint der Laibacher Philosoph Slavoj Zizek im profil, das Positive in diesem Nein sei „die Wahl der Wahl selbst. Die Zurückweisung der Erpressung durch die neue Elite, die uns nur die Wahl bietet, ihr Expertenwissen zu bestätigen – oder unsere ‚irrationale‘ Unreife zur Schau zu stellen.“
Kurzum: Ein Referendum, in dem die Entscheidung als eine zwischen „Wissen und Dummheit“ (Zizek) dargestellt wird, ist eine Nicht-Wahl. „Es gibt dieses pragmatische Argument“, formuliert die österreichische Attac-Vorständlerin Judith Sauer: „Wir müssen dieser Verfassung zustimmen, denn eine bessere kriegen wir eh nicht.“ Das Nein ist so gesehen eine Revolte gegen die dürre Vernünftigkeit, die sich immer die kleineren Übel wählt, bis sie einen Rucksack voll mit Übel angesammelt hat.
Wenn irgendwo das Rettende wächst, dann aus diesem Überdruss. Die Differenz zwischen Habermas’ Beschwörung des Mutes der Verzweiflung und dem heroischen Nein, in dem ein Insistieren auf dem Politischen auffindbar ist, klingt marginal, könnte aber größer nicht sein. Habermas will den Karren aus dem Graben ziehen – Zizek und Freunde sehen gerade in dem Umstand, dass er dort gelandet ist, einen Hoffnungsschimmer.