BERNHARD GESSLER STETHOSKOP : Schmierig wie Professor Brinkmann
Hier kommt die Frage an den Fernseharzt: „Herr Doktor, sagen Sie mir die Wahrheit: Wie lange habe ich noch?“
Natürlich ist die Frage viel älter als das Fernsehen, die Television. Das griechisch-lateinische Kunstwort drückt jedoch schon eine Erwartung aus: tele (= weit, fern) und visio (= Anblick, Erscheinung). Vom Arzt wird von manchem Patienten und Angehörigen eine Weitsicht erwartet, die ans Wahrsagen gereicht.
Die Krankheits- und Lebensprognose (prognosis = Vorherwissen) eines Patienten zu bestimmen, gehört zu den schwierigen ärztlichen Aufgaben. Natürlich gibt es Überlebensstatistiken zu allen häufigeren Tumoren und Volkskrankheiten. Mittels Nachschlagen in dicken Kompendien oder einer ausgefeilten Internetrecherche lassen sich die geforderten Statistiken besorgen. Aber Statistiken nützen im Einzelfall manchmal herzlich wenig: Schließlich kann kein Arzt schon bei Diagnosestellung dem Patient am Gesicht ansehen, ob er zu den 95 Prozent gehört, die der Tumor innerhalb eines halben Jahres töten wird – oder zu den 5 Prozent, die bis zu drei Jahren überlebt.
Die Antwort auf die Frage der verzweifelten Angehörigen am Sterbebett eines Kranken, wie lange „es noch dauern“ werde, kann man dann nicht nachschlagen. Hier ist viel klinische Erfahrung mit Sterbenden gefragt, die ein Arzt sich nur in einem langen, traurigen und belastenden Prozess aneignen kann – und er wird trotzdem oft danebenliegen. Erfahrene Krankenschwestern und Hospizhelfer können das wohl besser, sie sind in den letzten Tagen und Stunden näher beim Sterbenden.
Somit gerät hier oft ein Arztbild ins Wanken, das das Fernsehen unzähligen Senioren im Archetypus des Chefarzt Professor Doktor Brinkmann aus der Schwarzwaldklinik ins kollektive Gedächtnis gebrannt hat: das des Halbgottes in Weiß.
Wer hat eigentlich diesen Begriff verbrochen? Er erinnert mich an die alltägliche Erfahrung, eine Melodie vor sich hin summen oder eine Formulierung gebrauchen zu müssen, obwohl man sie eigentlich hasst. Dieses Arztbild ist so klebrig-schleimig, wie es Hans-Jürgen Wussow in seiner Paraderolle war.
Auch solche Szenen und Bilder bleiben kleben: Der heroische Chirurg Sauerbruch, der im schneidenden Kasernenhofton seine Assistenten anraunzt und danach der hübschen, geheilten Patientin die Wange streichelt. Der weiße Doktor mit Tropenhelm, der die todbringenden Plasmodien unter seinem Mikroskop entdeckt. Der piepsende EKG-Monitor, der ein Nulllinien-EKG zeigt. Wir alle – Patienten, Angehörige, Pflegende und Ärzte – sind nicht frei von diesen Bildern, die uns das Fernsehen aufgedrängt hat. Und gegen die Versuchung, diese heroisch-schön-schauerliche Fernsehwelt bewusst oder unbewusst nachzuspielen, ist kaum jemand gefeit.
■ Der Autor ist Internist in Karlsruhe Foto: privat