: Unser Mann in Kolumbien
WELT IM KOPF Der britische DJ und Produzent Will Holland alias Quantic taucht mit dem Album „Look Around the corner“ tief in Folk, Soul und Latin-Jazz der Siebzigerjahre ein – und mit seiner Band Los Miticos del Ritmo in die Cumbia
WILL HOLLAND ALIAS QUANTIC
VON DANIEL BAX
Der Umzug hat sich gelohnt. „Ich habe eine neue Perspektive gewonnen und bin Teil von etwas Neuem geworden“, sagt Will Holland. „Und mit dem Internet ist es außerdem ganz einfach, mit Europa Kontakt zu halten.“
Der britische DJ und Produzent, der sich hinter dem Pseudonym Quantic verbirgt, zählt zu den Pionieren des britischen Funk- und Soul-Revivals, das Stars wie Amy Winehouse, Sharon Jones und Adele hervorgebracht hat. Aus Liebe zu alten Latin-Sounds zog er 2007 jedoch nach Kolumbien. „Mir gefiel die Idee, diese eurozentrische Perspektive zu verlassen“, begründet er seinen Schritt.
Was er damit meint? „Vom europäischen Standpunkt aus betrachtet sind Drums und Percussions bloß eine Begleitung für die Melodie“, sinniert er. „In Südamerika dagegen kommt die Percussion zuerst, das Verhältnis von Rhythmus und Melodie ist genau umgekehrt.“ Außerdem sei Cali großartig gelegen. „In zwei bis drei Stunden ist man in Lima oder in Panama“, schwärmt Will Holland alias Quantic.
In Cali richtete sich Quantic ein Studio ein und legte sich mit der Combo Bárbaro sogar ein eigenes Latin-Orchester zu. Mit Musikern aus Panama, Peru oder Kolumbien gründete er die „Combo Barbaro“, um den Sound alter Soulaufnahmen aus dem Miami und New York der 1970er Jahre möglichst naturgetreu nachzuahmen.
Mit seinem neuen Album „Look Around the Corner“ ist ihm das grandios gelungen. Schwelgerische Streicher, flirrende Hintergrundchöre und vertrackte Rhythmen, später stoßen Bläser dazu – schon der Titeltrack ist eine nostalgische Gratwanderung zwischen Folk und Soul und ein wahres Himmelsgeschenk. Auf anderen Stücken kommen Flöten, Orgel oder Banjo hinzu, fast unmerklich flechten sich immer mehr Latin-Elemente ein. Dann entführt Quantic ins New York der Sechzigerjahre, als Latinos und Schwarze in Vierteln wie Harlem noch Tür an Tür lebten und aus Rock ’n’ Roll, Twist und Latin-Rhythmen neue Stile wie der Boogaloo erwuchsen.
Dass der Geist des Ortes, an dem er jetzt lebt, aber nicht ganz spurlos an ihm vorbeigegangen ist, merkt man daran, dass sich auf „Look Around the Corner“ auch eine kolumbianische Cumbia eingeschlichen hat, für die der DJ und Multiinstrumentalist selbst zum Akkordeon greift. Erst kürzlich hat Will Holland sogar ein ganzes Album mit Instrumental-Cumbia-Tracks veröffentlicht: „Los Miticos del Ritmo“ nennt sich das Projekt, das ganz die Aura alter Cumbia-Aufnahmen verströmt.
Erst beim zweiten Hören fällt auf, dass es auch Cumbia-Versionen von bekannten Queen- und Michael-Jackson-Hits enthält. Die Aufnahme klingt aber traditionell, weil sie ganz analog, ohne elektronische Geräte und digitale Effekte eingespielt wurde. „Ich hatte mir ein neues, gebrauchtes Aufnahmegerät gekauft“, erzählt Will Holland, wie es zu dem Album kam. „Wenn man sich eine Gitarre oder ein Aufnahmegerät aus zweiter Hand kauft, dann ist es doch so, als ob man bestimmte Songs quasi mitgeliefert bekommt“, beschwört er den Geist, der in der Maschine wohnt.
Sich in die Cumbia einzugrooven sei keine Hexerei gewesen, meint Quantic. „Die Leute neigen heute dazu, lateinamerikanische Musik zu exotisieren“, findet er. „Sie romantisieren sie, betrachten sie als etwas Archaisches und Tribales oder sagen: Das sind so komplizierte Tänze.“ Dabei sei der Austausch zwischen den Stilen einst ganz selbstverständlich gewesen. „Schon im frühen Rock ’n’ Roll gab es einen starken Latin-Einfluss, er gehörte immer dazu“, hat er entdeckt. „Selbst auf ‚Satisfaction‘ von den Rolling Stones sind Claves zu hören, die kubanische Schlaghölzer.“
Für „Look Around the Corner“ hat sich Will Holland mit der britischen Sängerin Alice Russels zusammengetan, mit der er schon früher gearbeitet hat und die durch NuJazz-Acts wie 4Hero bekannt geworden ist. Er lud sie nach Kolumbien ein, und gemeinsam ließen sie sich von alten Soul-Platten aus der „Chess Records“-Schmiede von Chicago inspirieren – neben Stax und Motown in den 1960er Jahren eines der wegweisenden Blues- und R-’n’-B-Labels der USA.
Wer Soul-Größen wie Minnie Ripperton vermisst, wird „Look Around the Corner“ zu schätzen wissen. Aber auch, wer den Folk-Soul eines Songwriters wie Terry Callier mochte, der in den Neunzigerjahren ein viel beachtetes Comeback feierte, wird daran seine helle Freude haben.
■ Quantic & Alice Russell featuring Combo Barbaro: „Look Around the Corner“ (Tru Thoughts); Los Miticos del Ritmo (Soundways)