: Als Bach dem Huhn gelauscht hat
MUSIK Komponieren wie die Vögel: Die „Morgenvogel-Kirche“ von Maria-Leena Räihälä und Manuel Bonig widmet sich mit Konzerten, Filmen und Vorträgen allem, was Flügel hat
VON JENNI ZYLKA
Falls man sie immer übersehen hat, wenn man nachmittags in irgendeinem Café am Zionskirchplatz Maulaffen feilhält oder abends vor einer Bar an der Castingallee TouristInnen hinterherpfeift, dann wird es jetzt höchste Zeit. Bevor sie noch einstürzt, so langsam, wie die Renovierungsarbeiten im Innenraum der Zionskirche vorangehen. Momentan sieht es drinnen nämlich noch genauso aus wie in der letzten halben Stunde des Science-Fiction-Films „Flucht ins 23. Jahrhundert“ von 1976, in dem Michael York und Jenny Agutter es schaffen, aus der Kuppelstadt zu fliehen, und den ersten alten Mann ihres Lebens sehen: Peter Ustinov, der in einer uralten Kirche lebt. Die ungefähr so gut in Schuss ist wie die Zionskirche.
Momentan bietet sich zudem eine wunderbare Gelegenheit: Noch bis zum 8. Juni bespielen die KünstlerInnen Maria-Leena Räihälä und Manuel Bonik das Gebäude mit ihrer „Morgenvogel-Kirche“, in deren Rahmen Konzerte, Lesungen und Filme stattfinden, die im weitesten Sinne das Thema Vögel bearbeiten. Was geradezu organisch wirkt, denn beim Betreten des Zionskirchplatzes klingen einem vom lauthalsen Amseln- und Nachtigallen-Gesinge eh frühlingshaft die Ohren, so dass das Weiterzwitschern im Innenraum hervorragend passt.
Vorgestern wurde das „Vogelkonzert 1“ von zwei TänzerInnen eröffnet: Zum Live-Orgel- und Synthiespiel des Komponisten, bildenden Künstlers und Schönberg-Fans John Kameel Farah flattern eine Frau und ein Mann mit Regenschirmen vor dem Alter um einander herum, und mit etwas Fantasie klingt das Keyboard von Farah wie das Trautonium, mit dem Oskar Sala so bahnbrechend Hitchcocks Film „Die Vögel“ untermalte. Danach spielt Farah eine Bach-Fuge mit Kuckuck-und Huhn-Themen drin versteckt, wobei das „Kuckuck“ um einiges leichter auszumachen ist als das „Boak-Boak“, was aber eine angenehme Herausforderung ist, weil man bei jeder neuen musikalischen Phrase überlegt, ob eine Henne so klingen könnte, und sich Bach vorstellt, der die gepuderte Perücke hochschiebt, um dem Huhn besser zu lauschen.
Winnie Brückner vom Gesangsensemble Vox Nostra singt etwas später eines von Hildegard von Bingen liturgischen Liedern von der Kirchenbrüstung herunter, und diese ganz und gar wie aus einer anderen Welt klingende Musik des 12. Jahrhundert hallt merkwürdig von den unbehandelten Wänden der Kirche wieder, und lässt einen auf den Holzbänken ganz andächtig werden. Gerade weil die Zionskirche ihrer Kirchigkeit sozusagen bis aufs Gerippe beraubt wurde, lässt sich die Mischung aus geistiger Musik und Kirchenatmosphäre nur hier hervorragend ertragen.
Die vier Stimmen des Gesangsensembles mischen sich hernach für zwei fast modern klingende Stücke von William Byrd, der allein qua Namen schon zum Thema passt. Und ein gruseliger Psalm aus dem 10. Jahrhundert lässt einen wieder darüber staunen, wie unglaublich stark sich die Musik zwischen Mittelalter und Renaissance geändert hat: Die an gregorianische Gesänge erinnernden Lieder scheinen die Qualen der Hölle und die Freuden des Himmels direkt (und per so genannter Neumennotation, viel schwieriger als normale Notenschrift) wiederzugeben. Was 500 Jahre später geschrieben wurde, fließt dagegen wie Loungesound in die Ohren.
Farah spielt noch zwei Uraufführungen für Stimmen, Orgel und Synthesizer: In „A Flock“ sollen die SängerInnen ihre eigenen Vogel-Stimmen finden, es ist inspiriert von der „Konversation“ in einem Vogelschwarm, erklärt der Künstler, und man denkt tatsächlich sowohl an das einzigartige Frage-Antwort-Geträller aus den Parks dieser Welt, als auch an die beeindruckenden Wellenbewegungen, in denen Schwärme immer durch die Häuserschluchten rasen, als ob sie jemand fernsteuern würde.
Über dem Altar hängt während des ganzen Konzerts ein riesiges Ei, zu groß für die Real Estates, die von den VeranstalterInnen verwaltet werden: Räihälä und Bonik haben einen Brutkastenvertrieb. Das Ei wird wachen, wenn heute der wackere Wissenschaftler Heinrich Dubel über „Örnithölögie - Vögelkunde für Anfänger“ spricht, wenn am Freitag Vogelkurzfilme gezeigt werden, und wenn an den weiteren Tagen über die „Metaphysik der Spatzen“ (u. a. von Helmut Höge) sinniert oder sich die „Singende Tulpe“ aus Hamburg am nächsten Mittwoch in einen Schwan verwandeln wird. Es war eben doch zuerst da. Noch vor der Henne.
■ Programm unter www.morgenvogel.net