: „Das Unrealistische hat großen Wert“
NEUSTART DRESDEN Kein anderer kann den Spielplan für eine Stadt so plausibel erklären wie Wilfried Schulz. Er ist als Intendant von Hannover nach Dresden gewechselt und beginnt dort mit jungen Regisseuren, alten Romanstoffen und einer Bürgerbühne
Ob als Mitbegründer des Heidelberger Stückemarkts, als Chefdramaturg in Basel oder am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg oder als Intendant in Hannover: Die Theaterarbeit von Wilfried Schulz, geboren 1952 in Falkensee bei Berlin, brachte den betreuten Häusern Glück. Überall gelang es ihm, neue Autoren- und Regisseurnamen ins Spiel zu bringen und damit auch die Aufmerksamkeit von vielfältigen Publikumsgruppen zu gewinnen. Nach neun Jahren in Hannover ist er zum Staatsschauspiel Dresden gewechselt, das ein großes Haus hinter dem Zwinger und ein kleineres in der Dresdner Neustadt zu bespielen hat.
INTERVIEW KATRIN BETTINA MÜLLER
taz: Herr Schulz, als vor zwei Jahren bekannt wurde, dass Sie als Intendant vom Schauspiel Hannover nach Dresden gehen, hat das viele überrascht. Sie hatten in Hannover die Künstler, das Publikum, die Politik und Sponsoren auf Ihrer Seite und haben der Stadt den Ruf eingebracht, für ihr Theater zu kämpfen. Was waren Ihre Motive für den Wechsel?
Wilfried Schulz: Jeder Mensch neigt zur Routinen, irgendwann denkt man, man kann es – das ist ein Trugschluss. Ich wollte nicht wieder in eine Situation reingehen, die mit Hannover vergleichbar ist, weil ich glaube, dass Kunstproduktion mit Neugier gegenüber dem Fremden zu tun hat. Von den Städten, in die ich hätte wechseln können, habe ich die mir Fremdeste ausgesucht. Spielregeln lernen, die man noch nicht durchschaut, das ist auch eine Herausforderung.
War Ihnen Dresden denn so fern, weil es eine ehemalige DDR-Stadt ist?
Ich bin in der DDR geboren und als Kind von meinen Eltern im Kinderwagen über die damals noch passierbare Grenze geschoben worden. In Westberlin bin ich groß geworden, mit einer großen Ostverwandtschaft und vielen Was-schickt-man-für-Päckchen- und Passierscheingeschichten. Das war die familiär-biografische Prägung, dann begann die politisch-gesellschaftliche. Anfang der Siebzigerjahre habe ich angefangen am Otto-Suhr-Institut zu studieren und mich mit linken gesellschaftlichen Utopien auseinandergesetzt. Dabei hatte ich immer diese langweilig-spießige und restriktive DDR vor Augen und die Vorwürfe meiner Familie, wie es den Verwandten im Osten ginge. Dieser Widerspruch hat mich lange beschäftigt, in Abgrenzung, in Liebe, in Hass, in Sehnsucht. Denn das Thema, mit dem ich auch zum Theater gekommen bin, ist, wie werden Menschen glücklich? Wie geht das individuell und in welchen gesellschaftlichen Zusammenhängen gibt es eine Chance dafür?
Und jetzt sind Sie in einer Stadt, die berüchtigt ist für den Sitz der NPD im Landtag und ein Problem mit dem Rechtsradikalismus.
Das finde ich einerseits eine Herausforderung, andererseits errötet man vor Scham, dass unsere Gesellschaft so etwas zulässt. Die Stadt ist heterogen und noch zerrissen. Man findet in ihr das Retromotiv, die Sehnsucht nach der DDR, man findet den Hass auf den Westen, aber auch den Neoliberalismus; das Renegatentum, sich jetzt für die Besten zu halten. Es gibt aber auch die große Liebe zu Kunst und Kultur und die Sehnsucht nach einer bürgerlichen Welt. Ich glaube, dass die übertrieben hohe Identifikation der Dresdner mit ihrer Stadt Ausdruck dafür ist, dass eine andere gewachsene gesellschaftliche Identität sich noch nicht so stark rausbilden konnte.
Sehen Sie denn jetzt noch Potenzial für neue Utopien?
Ja, in den Lücken zwischen den Widersprüchen. Aber zu oft sitzen einem im Moment Leute gegenüber, in der Politik und auch sonst, die behaupten, dass Geschichte sich nicht bewegt, dass sie stillsteht. Das erschüttert mich zutiefst, denn mein Leben ist von der Überzeugung geprägt, dass die Verhältnisse veränderbar sind oder zumindest subjektiv gestaltbar.
Sie haben sich ja in Ihrer Laufbahn den guten Ruf erworben, Theater wieder schön voll zu kriegen. Was ist Ihre Strategie für Dresden?
Das Theater soll ein lebendiges Zentrum der Stadt werden: ein wichtiger Ort, wo die Menschen sich treffen und austauschen. Ich glaube nicht an die eine, wahnsinnig tolle Inszenierung, die sich herumspricht und alle Leute ins Theater locken kann. Denn es gibt nicht ein Publikum, sondern viele verschiedene, auch in Dresden. Deshalb haben wir „Die Bürgerbühne“ entwickelt. Da gibt es Projekte mit Jugendlichen, mit Alten, auch mit anderen Gruppen, in denen gute Regisseure – also Künstler und nicht Pädagogen – mit den Menschen arbeiten. Wir stellen eine Bühne zur Verfügung.
Ein Amateurtheater?
Ich würde mit Rimini-Protokoll immer sagen, ein Theater der Spezialisten des Alltags. Im professionellen Schauspiel hat sich durch den Begriff des Performativen und neue Spielweisen, die direkter und improvisierter sind, ein anderes Interesse an Authentizität rausgebildet.
Sie eröffnen die Spielzeit am 12. September mit einem Stück von Martin Heckmanns „Zukunft für immer“, das auf Gesprächen mit drei Schauspielerinnen beruht, die seit 40 Jahren hier am Theater arbeiten. Ist das ein Signal dafür, dass man eben auch an hiesige Erfahrung anknüpfen und nicht etwa alles neu machen will?
Mich, die Dramaturgen, alle, die mit hergekommen sind, beschäftigt die Frage der Kontinuität von Geschichte sehr: aber auch, sich davon nicht schlucken und fressen zu lassen. Theater behauptet immer Neuanfang, Zukunft zu sein. Die drei Damen sind jetzt mit dem fünften oder sechsten Intendanten konfrontiert, müssen wieder von vorne anfangen und wissen natürlich, es wird neu sein und gleichzeitig auch alt sein. Es handelt sich um eine Hommage und gleichzeitig ironische Befragung des ewigen Beginnens in der Kunst.
Die Bürgerbühne hat ein ähnliches Projekt: Sieben Dresdner waren das Modell für Geschichten, die von Studenten des Studiengangs Szenisches Schreiben aus Berlin bearbeitet werden.
In „Alles auf Anfang“ steckt noch ein anderer Gedanke drin: Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer zu fragen, was wäre wenn. Das Theater ist ein Mittel, um zu fragen, wohin hättest du deine Biografie gerne korrigiert, wohin würdest du gerne noch mal zurückgehen. Das Utopische am Theater besteht darin, dass die Dinge immer wieder eine neue Richtung nehmen können. Theater verkörpert Freiheit in dem Sinne, dass es im wahrsten Sinne unrealistisch sein kann. Das hat einen großen realen Wert, gerade auch in den Zeiten von Krise und Depression.
Warum haben Sie eine Dramatisierung von Goethes Theaterroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ an den Anfang gesetzt?
Diese Stadt und ihre Menschen sehnen sich nicht danach, hip zu sein, sondern oftmals nach Mitte, Geordnetheit und organischer Entwicklung. Wir haben nach einer Folie gesucht, von dieser Sehnsucht zu erzählen. Wilhelm Meister ist ein Stoff, der uns da entgegenkam. Denn dort wird der Weg eines Bürgers ins Leben vermessen mithilfe der Frage, was kann Theater für die Menschen-Bildung bedeuten. Wir sind überzeugt, dass Kunst die Menschen in die Gesellschaft führen kann und starke, selbstbewusste Individuen hervorbringen kann. Das erzählt Wilhelm Meister. Übrigens haben wir den Goethe’schen Entwicklungsroman für uns wiederentdeckt bei der Lektüre von Tellkamps „Turm“ – ein Projekt für die zweite Spielzeit.
Sind Romanbearbeitungen nicht ein hohes Risiko?
Die Regisseurin Friederike Heller ist eine große Spezialistin dafür. Romane muss man bearbeiten, da über Werktreue zu reden, ist vollkommen unsinnig. Welchen Zugriff wähle ich, das ist entscheidend. Ich hoffe, dass sich anhand dieser Inszenierung auch in Dresden ein Diskurs über Ästhetiken und Aneignung von Stoffen ergibt.
Es ist auffällig, dass Sie mit vielen jungen Regisseuren arbeiten.
Nicht nur: Sebastian Baumgarten, Burkhard Kosminski, Barbara Bürk, Armin Petras, Franz Wittenbrink, dann auch Wolfgang Engel sind so jung denn doch nicht mehr. Aber natürlich suchen wir auch nach einem Impuls für das Theater und diese Stadt. Jeder Künstler arbeitet in erster Linie für seine Generation. Jeder Regisseur besetzt die Hauptrollen immer in seiner Generation. Da könnte man einen Essay drüber schreiben. Es geht nicht darum, sich ranzuschmeißen an ein junges Publikum, sondern glaubwürdig zu bleiben. „Romeo und Julia“ inszeniert Simon Solberg, dem man seine Herkunft aus der HipHop-Szene schon an der Baseballkappe und den tiefhängenden Hosen ansieht: Das ist eine junge Geschichte, das macht ein junger Regisseur, das sollte selbstverständlich sein.
Sind junge Regisseurinnen und Regisseure nicht in mancher Hinsicht braver als die älteren?
Nein. Heller, Köhler, Hölscher, Calis, Solberg, Vontobel – die haben nur andere Erfahrungen gemacht: 89 und nicht 68 zum Beispiel. Aber ihre Sehnsucht, sich abzugrenzen, ist genauso groß.
Im November zeigen Sie Stücke, die aus verschiedenen europäischen Ländern kommen und das Leben zwanzig Jahre nach dem Mauerfall thematisieren. Was ist an dem Projekt „After the Fall“ reizvoll für Dresden?
Die Stadt hat ein hohes Geschichtsbewusstsein, ist aber auch sehr in sich gefangen. Es gibt wenig Bewusstsein davon, dass Dresden eine Stadt mitten in Europa ist, seit zwanzig Jahren mehr denn je. Das Gute an dem Projekt „After the Fall“ vom Goethe-Institut ist, dass sie den Fall der Mauer nicht als einen deutschen historischen Moment, sondern als einen europäischen nehmen. Kommt mal aus eurer deutschen Larmoyanz raus, dass das nur eure Geschichte ist. Die Polen können eine ähnliche Geschichte erzählen und der Arbeitsmarkt in England hat sich verändert, weil die Polen nach England gehen.
Ein Projekt machen Sie auch mit Rimini-Protokoll und dem Prager Nationaltheater: „Vùng Biên Giói“ ist der Titel. Ist das Tschechisch?
Nein, das ist Vietnamesisch und heißt so viel wie „Grenzgebiet“! Wir sind darauf gekommen, dass das Thema vietnamesische Migration und Fremdenfeindlichkeit auch in Tschechien eine große Rolle spielt. Sowohl in Dresden wie in Prag gibt es große vietnamesische Kolonien. Rimini-Protokoll ist im Moment dabei, einen Abend mit vietnamesischstämmigen Menschen der zweiten und dritten Generation zu machen, die uns als deutsche und tschechische Bürger ihre Geschichte erzählen. Das finde ich richtig gut, eine deutsch-tschechische Koproduktion nur mit Vietnamesen auf der Bühne. Das gefällt mir, weil es die Perspektive dreht.