: 16 Europameister, 16 Vorrundenversager – warum alles möglich ist
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An 53 der 80 Dortmunder Bundesligatore waren Stürmer Robert Lewandowski, Rechtsaußen Jakub Blaszczykowski und Rechtsverteidiger Lukasz Piszczek beteiligt. Polen hat die Borussia also praktisch im Alleingang zur Meisterschaft geschossen. Kein Wunder, dass die Gastgeber inzwischen als Geheimfavoriten des Turniers gelten. Auch sonst spricht alles für sie: In der leichtesten Vorrundengruppe können sie mit Heimvorteil gemütlich ins Turnier rollen, um im Viertelfinale eines der abgekämpften Teams aus der Todesgruppe B zu schlagen. Den Rest erledigt Torhüter Wojciech Szcezsny vom FC Arsenal – und natürlich der Tempofußball über die rechte Offensivseite.
Die anderen sieben Feldspieler Polens haben leider doch nicht ganz die Qualität der Borussia-Spieler. Vor allem in der Abwehr hakt es. Und darauf kommen Lewakubisczek nach ihren glücklichen Jahren im Dortmunder Wohlfühlbiotop nicht klar: Ihre Pässe und Flanken werden im Nichts landen, das Trio im polnischen Spiel isoliert bleiben. Zudem hat das Team zwei Jahre ohne Wettkampfpraxis hinter sich – wenn es sich halbwegs eingespielt hat, ist eine sieglose Vorrunde bereits wieder zu Ende. Und sollte dann noch ein gegnerisches Team auf die Idee kommen, die schwache linke Seite des EM-Gastgebers zu beschäftigen, ist Polen aber mal so was von offen. MBR
Bis vor Kurzem galt Otto Rehhagel als Paradebeispiel dafür, dass im Fußball das scheinbar Undenkbare möglich ist: Selbst Griechenland kann Europameister werden. Dabei hatte der Titelgewinn mit dem deutschen Trainergreis nur bedingt zu tun. Vielmehr konnten die Gegner ihre abschätzige Spielweise gegenüber den Griechen bis ins Finale hin nie ablegen. Auch dieses Mal gehören sie zu den am schlechtesten beleumundeten Teams. Fast unbemerkt bleibt: Seit knapp zwei Jahren sind die Defensivspezialisten ohne Pflichtspielniederlage. Wie ignorant muss man sein, um diese klaren Zeichen nicht deuten zu können: Griechenland ist zurück und Titelfavorit Nummer eins.
Den propagierten Umbruch nach dem EM-Titel in Portugal haben die Griechen nur recht halbherzig vollzogen. In Ermangelung an Alternativen muss im Mittelfeld nach wie vor der gemächlich gewordene 35-jährige Georgios Karagounis die Freiräume zulaufen. Gegen Lettland und Malta hat es in der Qualifikation lediglich zu einem kläglichen 1:0-Erfolg gereicht. Die mit wenig Ideengebern bestückte griechische Offensive konnte sich ihre Sparquote vor dem gegnerischen Tor nur dank ihrer passablen Abwehr leisten. Höheren Anforderungen wie ihren Gruppengegnern Polen und Russland ist dieses Team nicht gewachsen. Die Griechen werden wie 2008 in der Vorrunde scheitern. JOK
Trainer Dick Advocaat kennt nur ein System: 4-3-3. Weil er zwei Spielmacher auf den vorderen Außenpositionen spielen lässt, können die Russen Offensivfeuerwerke abbrennen. Einer der beiden ist Andrei Arschawin, der Star der EM vor vier Jahren. Auch wenn er nur selten Lust hat, der Mann kann einfach gut kicken. Damit er Lust bekommt, hat ihn sein Trainer zum Kapitän gemacht. Über links kommt Alan Dsagojew von ZSKA Moskau. Dem 21-Jährigen mit ossetischen Wurzeln gehört als einem der wenigen im Team die Zukunft. Wenn die Spiele gegen die mauernden Gruppengegner vorbei sind, dann wird so richtig gewirbelt – auch in einem Viertelfinale gegen Deutschland.
Auch wenn sie die Vorrunde überstehen könnten, die Russen haben ein Problem: Sie sind alt. Kaum einer glaubt, dass die mit durchschnittlich 28,4 Jahren älteste Mannschaft des EM-Turniers dem modernen Hochgeschwindigkeitsfußball über einen längeren Zeitraum gewachsen ist. Schon das Viertelfinale ist zu viel. Und auch wenn die spielmachende Flügelzange wirklich funktionieren sollte, Tore müssten die Stürmer schießen. Das traut den alternden Herren Alexander Kerschakow, Roman Pawljutschenko und Pawel Pogrebnjak niemand zu. Außerdem sind die Russen Traditionalisten. Ein großen Titel haben sie noch nie gewonnen. Dabei bleibt’s wohl auch. ARUE
Das Team strahlt Bierruhe aus. Ins Breslauer EM-Quartier reiste der Tross mit der Bummelbahn. Für die 280 Kilometer ab Prag brauchte man ganze sieben Stunden. Auch vom angeblichen Legionellen-Befall des Teamhotels ließ man sich bis zur Entwarnung nicht verrückt machen. Ebenso geduldig wird die Mannschaft nach vorne spielen und darauf warten, dass Tomas Rosicky und Milan Baros, die letzten Überlebenden der „goldenen Generation“, mit ihren Toren endlich für den verdienten Titelgewinn sorgen. Vor Gegentreffern sind die Tschechen gefeit und für mögliche Elfmeterschießen gerüstet: Der Grund: Champions-League-Held Petr Cech. Darauf ein Pils.
Das Gesetz der Serie steht den Tschechen im Weg. Finale – Vorrunde – Halbfinale – Vorrunde, so die Ergebnisse der vier EM-Teilnahmen seit dem überraschenden zweiten Platz 1996. Logisch also, dass für das Team von Trainer Michal Bilek dieses Jahr das Aus im Viertelfinale folgt. Denn den Tschechen sind die Stars ausgegangen. Es fehlt das Gerüst an Spielern mit ausreichend internationaler Erfahrung oder regelmäßigen Einsätzen bei europäischen Spitzenklubs. Schon die Abwehr wird ihren Torhüter im Stich lassen. Oder glaubt einer, dass Marek Suchy und David Limbersky aus Moskau und Pilsen sowie Roman Hubnik von der Hertha für Stabilität sorgen? EPE
Sie sind zum Siegen verdammt. Denn Deutschland ist das neue Spanien. Sie spielen schnell und direkt in die Spitze – die deutsche Variante des spanischen Tikitaka, also des offensiven Kurzpassspiels. Fast alle Fans in Deutschland erwarten den Titel. Nur die Buchmacher sehen die Spanier noch leicht besser. Aber was heißt das schon? Das deutsche Mittelfeld ist überragend besetzt. Und hinten steht mit Manuel Neuer ein titanischer Ballfänger und Elfmetertöter. Und dann wäre da noch Jogi Löw, der das Spiel der deutschen Mannschaft revolutioniert hat. Er hat den deutschen Fußball in die Postmoderne gehievt. Nun ist es an der Goldenen Generation, den Titel zu holen.
Sie sind zum Siegen verdammt. Das macht schwere Beine und Köpfe. Es könnten sich leichte Verdauungsschwierigkeiten ergeben wegen des übergroßen Verzehrs von Vorschusslorbeeren. Fraglich ist auch, ob der Bayern-Block all die Hoffnungen erfüllt, die Coach Jogi Löw in ihn setzt. Sie sind ja die Geschlagenen dieser Saison, während die erfolgreichen Spieler von Borussia Dortmund wohl nur zuschauen dürfen. Und dann ist da noch die Abwehr, von der niemand weiß, was sie unter harter Belastung zu leisten imstande ist. Allein die Vorrunde zu überstehen, wird schwer genug. Vizeweltmeister Holland und die Portugiesen wollen die Deutschen früh rauskicken. MV
Huntelaar. Van Persie. Snejder. Kujt. Die Niederländer haben wie gewohnt einen Haufen überragender Offensivspieler im Gepäck. Und dank Mark van Bommel und Nigel de Jong gibt es nun zusätzlich eine stabile Absicherung im defensiven Mittelfeld und die nötige Drecksaumentalität, mit der man Titel holen kann. Schönspielen ist unter Trainer Bert van Marwijk nur noch eine Option unter mehreren. Mit dieser unholländischen Einstellung ging es bereits 2010 ins erste Finale seit der EM 1988. Jetzt ist man noch zwei Jahre eingespielter und reif für den letzten Schritt. Und im Notfall ist da ja noch ein Arjen Robben, der jederzeit ein Spiel ganz allein gewinnen kann.
Während Deutschland und Spanien sich unverwechselbare Spielstile einimpfen, opfert Holland seinen Voetbal Total für ergebnisorientiertes Spiel? Und das soll klappen? Da ist der Fußballgott vor! Holland hat seine Seele verkauft, Spielmacher Wesley Snejder ist auf der Suche nach seiner 2010-Form und das Überangebot an Offensivstars hat Potenzial für interne Spannungen (Huntelaar! Van Persie!). Die größte Problemzone ist aber die Innenverteidigung um Joris Mathijsen und Johnny Heitinga, da kann auch der starke Torwart Martin Stekelenburg nicht alles retten. Und im Notfall ist da ja noch ein Arjen Robben, der jederzeit ein Spiel ganz allein vergeigen kann. MBR
Wie immer verfügen die Portugiesen über etliche Einzelkönner, die bei den ersten Adressen des europäischen Klubfußballs zu den absoluten Größen zählen. Der Allerbeste aber, Cristiano Ronaldo, steht auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft. Einen solch begnadeten Spielentscheider hat niemand sonst in seinen Reihen. Trainer Paulo Bento, der kleine Diktator, bringt zudem die Strenge mit, um aus den eigenwilligen Stars ein funktionierendes Ensemble zu bilden. Mit einem zu hohen Erwartungen werden die Portugiesen in der starken Gruppe B auch nicht belastet. Sie besetzen gern die Außenseiterrolle. Bessere Rahmenbedingungen hat keines der starken EM-Teams.
Es ist immer das gleiche Lied. Eine unglückliche Liebesgeschichte. Die Portugiesen werden auch dieses Mal die Fußballherzen in Europa erobern. Ihr schweres Los (Holland, Deutschland, Dänemark) werden sie mit Bravour meistern. Und im Glauben, dass dem großen Glück ja nun im Viertel- und Halbfinale nichts mehr im Wege stehen kann, scheitern sie auf tragische Weise. Die allzu bekannten Kniffe ihrer Charme-Offensive werden nicht mehr zum Ziel führen. Endgültig durchschaut, werden sie von einem Fettnäpfchen ins nächste treten. Gut möglich, dass das letzte auf einem Elfmeterpunkt platziert sein wird. Der nimmer endende portugiesische Fado eben. JOK
Natürlich hat die Dänen keiner auf dem Zettel – erst recht nicht in der hochkarätig besetzten Gruppe B. Oder gerade darum. Zwanzig Jahre ist es her, dass „Danish Dynamite“ die EM-Stadien in Schweden erzittern ließ. Davon kann vor allem der damalige Finalgegner aus Deutschland ein bitteres Liedchen singen. Was 1992 Laudrup & Co. aus dem Urlaub gelang – Jugoslawien war wegen des Balkankonflikts ausgeschlossen worden, Dänemark rückte nach – wiederholt sich nun. Coach Morten Olsen (einst Trainer in Köln und Amsterdam) guckt die beiden Gruppengegner und Titelkandidaten hervorragend aus. Und Sunderland-Profi Nicklas Bendtner wird Torschützenkönig.
Die Todesgruppe macht ihrem Namen alle Ehre. Die Dänen fliegen nach der Vorrunde raus, weil die individuell deutlich besser besetzte Konkurrenz einfach zu stark ist – Fußball-Darwinismus. Das ambitionierte Konterteam wird von den Niederländern überrannt. Es folgt ein kurzes Zwischenhoch im Wikingerlager (Reminiszenz an die Vorväter sind die tätowierten Unterarme der Defensivabteilung) nach dem Sieg gegen die Portugiesen. Dann macht die deutsche, bereits für das Viertelfinale qualifizierte Elf die Hoffnungen auf das Titel-Jubiläum zunichte. Die Erfolgsära von Morten Olsen geht nach vier von sechs möglichen Qualifikationen für EM- und WM-Endrunden zu Ende. JSCH
Aller guten Dinge sind drei. EM-Titel 2008, WM-Titel 2010, EM-Titel 2012. Und danach vermutlich lange nichts, irgendwann hat es sich ausgetikitakat. Aber erst mal kommt Titel Nummer drei. Warum? Wegen Iker Casillas, Victor Valdes, Pepe Reina, Sergio Ramos, Alvaro Arbeloa, Raul Albiol, Gerard Pique, Jordi Alba, Xabi Alonso, Andres Iniesta, Xavi, Cesc Fabregas, Sergio Busquets, Pedro, Fernando Torres, Juan Mata, David Silva, Roberto Soldado und Fernando Llorente. Egal ob 4-3-3, 4-4-2 oder 4-1-4-1, den Ball haben die Spanier. Da hilft kein Beton und da hilft ganz sicher auch kein Badstuber. Die spanische Mannschaft ist und bleibt die beste Mannschaft der Welt, mit dem schönsten Fußball der Welt.
Die Spanier haben ein Viertelfinaltrauma, das in diesem Turnier wieder zuschlagen wird. Sie werden aus ihrer Gruppe als Erste hervorgehen, das ist klar. Im Viertelfinale treffen sie also auf die Engländer oder die Franzosen. Ihr letztes entscheidendes Turnierspiel verloren sie bei der WM 2006 gegen Frankreich, das dürften sie nicht vergessen haben. Und wer außer den Engländern soll wissen, wie Tikitaka aufzuhalten ist? Chelsea hat es mit einer hübschen Sechserkette gegen Barça erfolgreich vorgemacht. Die Spanier haben keine Chance, das Viertelfinale zu überstehen – zu nachhaltig ist das Trauma, zu groß der Respekt vor den einzigen ernstzunehmenden Gegnern. BÖ
Dreimal Weltmeister, nur einmal 1968 EM-Titel – das geht nicht. Oft wurde die Squadra Azzura für ihr zu aggressives Spiel kritisiert. Trainer Cesare Prandelli hat zur EM 2012 eine fast komplett neue junge Mannschaft aufgestellt und setzt auf ein sehr offensives und variables 4-3-1-2-System. Eine Chance für die Italiener. Die erfahrenen sind fast alle weg – außer Antonio Di Natale, Andrea Pirlo und natürlich Torwartstar Gianluigi Buffon. Dafür kommen Antonio Nocerino, der Allrounder im Mittelfeld, der 21-Jährige Stürmer Fabio Borini, der keine Turniererfahrung hat, aber unglaublich wendig und reaktionsschnell ist, und Mario Balotelli, die Bombe im Sturm mit zu viel Temperament.
Prandellis Team hat ein Durchschnittsalter von 27,98. Das ist immer noch zu alt. Lange waren bei den Italienern vor allem die alten Spieler die Besten. Jetzt fehlen sie. Buffon, Pirlo und di Natale allein werden keine Chance haben, das Spiel zu bestimmen. Es fehlt an alten Spitzenspieler. Ohne Gennaro Gattuso im Mittelfeld, ohne Fabio Cannavaro in der Abwehr und ohne Alessandro Del Piero im Sturm stehen sie schlecht da. Stattdessen gibt es viele junge No-Names mit wenig Spielerfahrung. Und dann auch noch der Skandal: Die Razzien, Verhaftungen und Verdächtigungen verhinderten bisher die einigermaßen ruhige Vorbereitung für die Europameisterschaft. IPP
So sicher wie Kroatien 2013 EU-Mitglied wird, so sicher wird Kroatien 2012 Europameister, meint Luka Granic, 37, Chef des Fischrestaurants „Konoba Bratus“ an der dalmatinischen Adria und ehemaliger Rugbyspieler (Nada Split). Die größte Stärke des Teams sieht er darin, die Anweisungen des Trainers Slaven Bilic zu ignorieren. „Solange Bilic Mittelstürmer Eduardo (Doneszk) statt Nikica Jelavic (Everton) aufstellt, schlagen wir jeden.“ Auch die tödliche Mittelmeergruppe? „Unsere Scampi und Tintenfische sind schließlich auch besser als die spanischen und italienischen. Vor uns sind schon ganz andere große Nationen eingeknickt. Und Honduras und Australien sind nicht dabei.“
Die „Feurigen“ spielen auf Sparflamme: Ohne Kampfschwein und Torgarant Ivica Olic (Bayern), dafür mit Josip Simunic (Hoffenheim), der seine Zeit als bester Innenverteidiger der Bundesliga lange hinter sich hat, und einem Trainer, der den Job schon lange vor der EM hingeschmissen hatte, aber dann doch noch mal Geld für Drogen brauchte. Lena Puharic, die 48-jährige Chefköchin des Fischrestaurants „Konoba Bratus“ an der dalmatinischen Adria vergleicht die derzeitige Abwehr mit ihrer Kreditkarte, die keine Deckung hat. Doch sie schätzt Trainer Slaven Bilic: „Aber nicht auf diesem Terrain. Er soll Gitarre spielen und singen. Das kann er ganz bezaubernd.“ AKR
Die Iren haben einen erfahrenen Star in ihren Reihen, der sie sicher zum ersten Titel führen wird. Nein, es geht nicht um Towart-Legende Shay Given oder den Rekordtorschützen Robbie Keane (53 Treffer). Macher ist ein Bankdrücker. Taktikfuchs Giovanni Trappatoni macht dieses Mal den Otto. Wie der scheidende Hertha-Coach vertraut „Trap“ auf altersmilde Spielkultur und bedingungslosen Einsatzwillen. Hinten sicher und vorne wird irgendwie mit Ball die Torlinie überquert. Ein Grüner wird ob des gleichfarbigen Geläufs schließlich immer übersehen. Also setzt sich die zweitälteste Mannschaft des Turniers nach sechs spärlichen 1:0-Siegen durch.
Eigentlich sind die Iren in der zweiten „Todesgruppe“ im Vorteil. Die spielstarken Kontrahenten kommen der irischen Konterelf entgegen, allerdings lassen weder Kroatien noch die spanischen Titelaspiranten diese zu. Stürmer Keane und Flügelflitzer Duff haben ihre besten Tage ohnehin hinter sich. Das griechische Modell des Trainers funktioniert aber gegen sein Geburtsland. Trappattonis keltischer Catenaccio greift – trotz Papstsegen – gegen die Squadra Azzurra perfekt. Robbie Keane nagelt den Ball nach simplen Kick-and-rush-Spielzügen unter Buffons Querlatte. Darüber gerät das erträumte Viertelfinale gegen Erzrivale England ganz in Vergessenheit. JSCH
Für Artem Milewski könnte die EM der Auftakt für eine große internationale Karriere werden. Der 27-jährige Stürmer mit Vorbereiterfähigkeiten ist für Trainer Oleg Blochin der wichtigste Spieler. Er hat immer bei Dynamo Kiew gespielt. Das könnte sich schnell ändern, wenn er umsetzt, was der Trainer von seinem 1,93-Meter-Hünen verlangt: das Spiel gestalten und die Tore dann gleich selbst machen. Ansonsten wird das Team vor allem dadurch punkten, dass es für die Gegner eine wahre Wundertüte ist. 41 Spieler hat Blochin in zehn Tests auf das Feld geschickt. Was dabei rauskommen würde, wusste er wohl selbst oft nicht. Die Ukrainer werden ihre Gegner einfach überraschen.
Viel mieser könnte die Stimmung beim Kogastgeber gar nicht sein. Die Ukrainer trauen ihrer Nationalmannschaft beinahe ebenso wenig zu, wie die sich selbst zutraut. Seit Wochen klagt Oleg Blochin über eine Verletzungsmisere und beschwert sich darüber, dass keiner der Mannschaft etwas zutraut. Der Anführer des Teams, der Münchner Anatoli Timoschtschuk, ist als ein Bayern-Verlierer der Saison nicht gerade als Stimmungskatalysator geeignet. Für gute Laune sollte eigentlich der alte Andrei Schewtschenko sorgen. Der ist jetzt 35 und leidet an einer Art Dauerhexenschuss. Das wird nix. Schade für die Stimmung im Gastgeberland, aber die Ukraine fliegt in der Vorrunde raus. ARUE
Raymond Domenech, der Trainer, mit dem sich das französische Team bei der WM 2010 blamierte, ist weg. Danach hat einer übernommen, der weiß, wie Weltmeister und Europameister geht: Laurent Blanc, Kapitän der großen französischen Mannschaft der neunziger Jahre. Seine erste Amtshandlung: Karim Benzema (Real), Samir Nasri (Man City), Philippe Mexès (Mailand) und weitere junge Spieler ins Team zu holen, die unter Domenech allenfalls den Alten die Schuhe putzen durften. Und die Rädelsführer des Aufstandes gegen Domenech (Ribery, Evra) hat er auch noch integriert. Seither geht es aufwärts. Erfahren und stürmisch, dazu viele große Künstler – Allez les bleu!
Laurent Blanc als Trainer, Fabien Barthez – Torwart der 98er-Mannschaft – als Torwarttrainer, Zinedine Zidane als allgegenwärtiger Übervater und Michel Platini (auch so ein früherer Fußballgott) als Uefa-Präsident – die Franzosen von heute leiden an der Last der Vergangenheit. Und nicht nur an den alten Säcken. Der Eklat von der WM 2010 ist noch nicht vergessen, außerdem fehlt mit dem verletzten Kapitän Eric Abidal der einzige, der auch in hektischen Situationen für Ruhe sorgen könnte – auf dem Platz und außerhalb. Und hektisch wird’s oft. Eine Qualifikation, die mit einem 0:1 gegen Weißrussland begann und einem 1:1 gegen Bosnien endete – excusez-nous, das wird nix. DZY
Hm, gute Frage: Warum wird England Europameister? Weil ein Wunder geschieht oder alle anderen Teams von einem mysteriösen Virus befallen werden? Weil dem hungernden Mutterland des Fußballs auch mal wieder ein paar Brosamen hingeworfen werden? Ach was, sie müssen sich nur mal den FC Chelsea anschauen. Die Londoner gewinnen den Pott der Pötte, obwohl sie auf dem absteigenden Ast sind. Die zuletzt gegen Bayern und Barcelona erfolgreiche Taktik der Blauen sollte als Blaupause dienen für die Spiele der Engländer. Mauern hochziehen. Mit Mann und Maus verteidigen. Und dann den unverdienten Lohn kassieren in Form des EM-Pokals. Why not?
Sie alle sind wegen Verletzungen nicht dabei: Frank Lampard, Gareth Barry und Gary Cahill. Und was tut Englands Nationaltrainer Roy Hodgson. Er nominiert nicht etwa Rio Ferdinand nach, der 81-mal für England gespielt hat, sondern Martin Kelly vom FC Liverpool. Ferdinand fragt via Twitter: „What reasons ?????!!!“ – und spricht den englischen Fans aus dem Herzen. Seit 46 Jahren warten die Three Lions auf einen Titel. Ein Ende der Flaute ist nicht in Sicht. Hinzu kommt das Fehlen von Wayne Rooney in den ersten beiden Spielen, der wegen einer Roten Karte in der Quali gesperrt ist. Hodgson gibt die Richtung vor: „Wir werden nicht als Favoriten in das Spiel gegen Frankreich gehen.“ MV
Nur 1994 war man zwischen Ystad und Lulea fußballerisch gesehen wirklich zufrieden, damals glückte bei der eher langweilenden WM in den USA ein dritter Platz – weiter kamen die Tre-Kronor-Stars nie mehr: Der Fußball dieses Landes lebt von einer soliden Ausbildung in der Heimat und dem Export von Talenten vor allem nach England und Schottland. Zlatan Ibrahimovic, waschechter Malmöer und Kind jugoslawischer Einwanderer, ist mit 30 Jahren der Star dieses Teams. Mit ihm soll gelingen, wonach man sich in seinem Land sehnt: Im Konzert der Großen nicht nur eine mittlere Hürde auf dem Wege zum Titel zu sein – sondern selbst zu gewinnen.
Könnte aber auch sein, dass ein Ibrahimovic mal wieder keine Lust hat, sich ins Getümmel zu werfen, als Dirigent gleichwohl sein Team durch Nörgelei zu demotivieren. Gegen England und Frankreich reichte es dann nur zu Unentschieden, weil diesen Schweden alles viel zu brav und tüchtig gelingt, aber das Genialische, was Fußball von Bolzerei unterscheidet, eben nicht hat. Letzter Platz in einer Gruppe, in der man gegen die Ukraine verlor? Nicht unwahrscheinlich, dass die letzte große Tat der Sieg gegen Holland in der Quali war: Schweden wird also weiterhin hauptsächlich von Eishockeyerfolgen zehren müssen – allerdings sind auch hier die guten Tage lange vorbei. JAF