: Am Anfang steht der Weltkrieg
Das Jahr 1914 war auch in Ungarn der Startschuss ins Zeitalter der Fotografie. In der Ausstellung „Seelenverwandt. Ungarische Fotografien 1914-2003“ im Martin-Gropius-Bau sucht Fotograf Péter Nádas Gemeinsamkeiten mit den Arbeiten von Kollegen
VON JOCHEN SCHMIDT
In der Eingangshalle des Gropius-Baus scheint dem Geräusch nach ein Propellerflugzeug zu kreisen. Die Kassenfrau klagt: „Das höre ich den ganzen Tag.“ Schuld ist eine Videoinstallation zur Ausstellung „Die neuen Hebräer“. So etwas Ähnliches wie Lärm fürs Ohr stellen ja heute Bilder fürs Auge dar. Muss man nicht verrückt sein, wenn man in seiner Freizeit freiwillig Ausstellungen besucht, wo man noch mehr Bilder zu sehen bekommt? Manchmal können Bilder allerdings auch Erholung von Bildern sein.
Die Ausstellung ungarischer Fotografien des 20. Jahrhunderts, die Péter Nádas kuratiert hat, bietet einige solcher Inseln fürs Auge. Laut den Begleittexten hat Nádas, selbst ursprünglich Fotograf, nach Gemeinsamkeiten zwischen seinen und den Arbeiten seiner zahlreichen ungarischen Kollegen gesucht; vom „Wunder der ungarischen Fotografie des 20. Jahrhunderts“ ist gesprochen worden angesichts der Fülle von Talenten aus diesem Land. Zeigt sich ein „Nationalcharakter“ in der ungarischen Fotografie? Auf jeden Fall scheint es ein ungarisches Fotografen-Altersgen zu geben, sieht man sich die Lebensdaten der Ausgestellten an: Brassaï wurde 85, Ferenc Haár 89, André Kertész 91, Eva Besnyö 93, Iván Vydareny 95; Ata Kando und Lucien Hervé leben noch und sind 92 beziehungsweise 95 Jahre alt.
Am Anfang steht der Erste Weltkrieg, wie alle Kriege ein Inkubator neuer Medien. Rudolf Balogh soll als Korrespondent 10.000 Kriegsfotografien angefertigt haben, auf einer davon durchqueren Soldaten ein Schneefeld, im Gänsemarsch unterwegs in den Tod. Iván Vydareny fotografiert gefesselte Soldaten, ausgemergelte Gestalten, die nichts mit ihren heutigen Hollywoodkollegen zu tun haben, keine Spur Männlichkeitskult, eher verlauste Hausknechte in schlotternder Uniform. André Kertész zeigt Soldaten auf der Latrine hinter der Front. Friedlich rauchend teilen sie sich einen Donnerbalken. Erschütternd dagegen Baloghs Bilderserie einer Exekution durch den Strang. Der Verurteilte bleibt völlig teilnahmslos, als würde er die Szene nur proben.
In den anderen Räumen fallen vor allem die so genialen wie berückend einfachen Kompositionen von André Kertész auf, die zeigen, dass man auch ein großer Mann werden kann, wenn man aus einem Ort wie Szigetbecse stammt. Man staunt wieder, dass in der Fotografie die schöpferische Leistung schon allein darin bestehen kann, den richtigen Ausschnitt zu wählen, man muss nichts dazuerfinden. Eine Bordsteinkante und die zufällige Struktur von Pflaster und Teerbelag ergeben eine abstrakte Komposition. Und aus einer verwelkten Blume im Glas wird eine „melancholische Tulpe“.
Die Bilder Robert Capas sind, wie Brassaïs Porträt des greisen Matisse beim Skizzieren eines Aktmodells, längst zu Ikonen geronnen. Umso überraschender Brassaïs Bilderserie von einem auf dem Bordstein sterbenden Mann, anscheinend aus dem Fenster seiner Wohnung fotografiert. Eine Menschentraube bildet sich, der Leichenwagen kommt, und auf dem letzten Bild sind alle Spuren des Geschehens beseitigt, sodass die Straße wirkt wie ein verwaistes Bühnenbild. Man erinnert sich an Walter Benjamins Charakterisierung der Bilder Eugène Atgets, der die menschenleeren Pariser Straßen „aufnahm wie einen Tatort“.
Wie steht es nun um das Konzept der Ausstellung, das ja mehr will als schöne Fotos aus Ungarn zugänglich zu machen? Gibt es eine „Seelenverwandtschaft“ zwischen Nádas und seinen Kollegen? Um die zu zeigen, werden Motive parallel gesetzt, ein allein stehender Baum findet sein Echo in einem von Nádas 30 Jahre später fotografierten allein stehenden Baum, und ein Bild von ungarischen Reitern hängt neben einem älteren Bild von ungarischen Reitern. Man darf sich allerdings fragen, ob es sich in Ungarn für einen jungen Fotografen überhaupt vermeiden lässt, irgendwann einmal allein stehende Bäume und Reiter zu fotografieren. Besonderes Vergnügen muss es Nádas bereitet haben, seine „Magda auf dem Balkon in der Andor-Straße“ von 1975 neben einen 40 Jahre älteren kopflosen Akt von Brassaï zu hängen, sodass es scheint, als würde Magdas Kopf zum Körper von Brassaïs Modell gehören.
Nimmt man das noch als augenzwinkernde Hommage, dann ist doch auffällig, dass für die ungarische Fotografie ab 1950 nur noch Nádas steht. Den Höhepunkt der Ausstellung bildet ein Raum mit 507 Polaroids, in denen Nádas einem Birnbaum in seinem Garten die Ehre erwiesen hat. Angesichts des schönen Baums ist das verständlich, aber wenn es sich nicht um Péter Nádas’ Baum handeln würde, wäre es doch weit weniger spektakulär.
Auch das Interesse an den „Erniedrigten und Beleidigten“, auf das im Geleitwort hingewiesen wird, zeichnet ja eigentlich jede Fotografierkultur aus. Seltsamerweise wird dafür Zeitgeschichte nach 1945 fast völlig ausgeblendet. Vom kommunistischen Ungarn sieht man lediglich die Flüchtlinge, 1956 von Ata Kando an der österreichischen Grenze aufgenommen. Immerhin reizen diese Bilder zum Vergleich mit denen der in der Erinnerung ungleich prosaischer erscheinenden Flüchtlinge an derselben Grenze 30 Jahre später.
„Seelenverwandt. Ungarische Fotografien 1914–2003“, 10. 6.–29. 8., Martin-Gropius-Bau