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Archiv-Artikel

Ernst – Stern. Ein Anagramm

WÜNSCHE Er musste Mechaniker werden. Lieber malt er aber. Zuletzt kleine Sterne. Für ihn: Welterfahrung auf Papier

Nach dem Krieg reparierte der Ernst Motoren. Nicht freiwillig. Nicht unfreiwillig. Das war „dazemal“ so

AUS OBERRIMSINGEN WALTRAUD SCHWAB

Der Onkel Ernst ist jetzt 85 und malt Sterne. Wenn er kann, macht er das jeden Tag. Dann zieht er seinen Körper aus dem abgewetzten Sessel, setzt seine Brille auf, rückt den Stuhl mit dem Kissen zurecht und beugt sich über den Tisch unter der Lampe in der Stube. Die Brille ist mit Pattex geklebt. In der Mitte zwischen den zwei Gläsern war sie gebrochen. Der hart gewordene Klebstoffklumpen, der die beiden Hälften seit Jahren zusammenhält: eine graue Perle zwischen den Augen.

Vor Onkel Ernst liegt das kleine Arbeitsbrett. Daneben sind die Stifte und auch der Radiergummi. Abgegriffen ist er, schwarz vom Grafit, nur das rote Innere leuchtet, dort, wo damit radiert wurde. Gerade arbeitet der Onkel Ernst an einem sechszackigen Stern, der von einem vierzackigen Stern gehalten wird. Die Linien in Orange, Gelb, Altrosa umschlingen sich, gehen in die Tiefe auf dem neun mal neun Zentimeter großen Stückchen Papier. „Hm“, sagt er. Was ist? „Falsch“, sagt er und radiert die äußere Linie einer ein Millimeter mal ein Millimeter großen Raute – so klein wie ein Stecknadelkopf also.

Fast alles ist klein. Die Raute, an der er radiert, die Sterne, die er malt, das niedere Zimmer mit den Deckenbalken, in dem er sitzt, ja, auch der Onkel Ernst ist klein. Nur sein Lachen, sein Kopf, seine Hände und der Fernseher, vor dem er manchmal sitzt, ohne viel zu verstehen, sind groß. Fernsehen schaut er, er hört es nicht. Er sieht da was: Formen, Farben, Zweidimensionalität, Zeit. „Zitt“, sagt er. „Zitt, wo vagout“ – Zeit, die vergeht.

An seinem Wohnzimmertisch aber bleibt sie stehen. Mit Farbstiften, Bleistiften – heruntergespitzt bis auf die letzen Zentimeter – und mit einem Lineal, abgeschabt wie seine Hände, die doch fein sind, taktil, nicht zittrig, zeichnet er, malt er sechszackige, achtzackige, fünf-, sieben- oder sonstwievielzackige Sterne. Und trinkt eine Weißweinschorle dazu. „Oktobertee“, sagt er. „Ja, die Sterne mit den ungeraden Zacken sind heikel“, sagt er. Diese akkurat hinzubekommen, dafür brauche es Augenmaß, aber er hätte ein paar Fünfer „in der Mache“ – diese „Kaiben“, diese Widerspenstigen. Wie er denn die Fünfzackigen hinbekommt? Er fährt mit der Spitze des Lineals übers Papier, ohne es zu berühren, sagt, dass er ein Sechseck male, das teile und den Teilen etwas zuschlage. Was zuschlage? „Erscht so rum, deno so rum und dann do davu d Helfti“ – davon die Hälfte. Es ist alles in seinem Kopf.

Mehr als tausend Sterne hat der Onkel Ernst gemalt in den letzten fünfzehn Jahren. Jeder sieht anders aus. Aber wer weiß schon die genaue Zahl, denn er ist großzügig damit, verschenkt, gibt weg. Jeder soll sich einen aussuchen. Und dann die Ausstellung im alten Tankwartraum vor fünf Jahren, die seine Neffen und Nichten für ihn organisiert haben, da wurde er doch auch fast zweihundert Sterne los. Immer sechs in einem Rahmen. Seine schönsten. Sterne, die optisch täuschen. Sterne, die zuerst Blumen sind, bevor sie Sterne werden. Sterne, die an gotische Kirchenfenster, arabische Fayencen, südamerikanische Ornamentik, italienische Renaissancegärten erinnern. Gesehen hat er das alles nie – Florenz, Venedig, den Kölner Dom, maurische Fresken, die Kunst der Inkas – er hat es trotzdem in sich. Er malt es von innen. Jeden Tag.

Im Lager malt er, wenn er einen Fetzen Papier findet

Der Onkel Ernst lebt auf dem Dorf. Immer schon. Oberrimsingen heißt es, liegt nah am Rhein und der französischen Grenze. Nur einmal war er weg, kam über Colmar, Hagenau und ein drittes Lager, dessen Namen er nicht mehr weiß, bis nach Straßburg – sechzig Kilometer nördlich vom Dorf. Seine größte Reise. Damals in der Gefangenschaft war das.

Zum Volkssturm hatten sie ihn noch geholt am Ende des Krieges. Fürs große Soldatsein war er zu klein gewesen, ein Meter fünfundvierzig. Einer der „wegwitscht“ – verschwindet, von Zauberhand. Und richtig gut hörte er damals schon nicht. Als er im Schwarzwald dann im Volkssturmeinsatz war, wollte er abhauen, erzählt er, nicht politisch abhauen, er winkt ab, sondern so abhauen, wie ein Junger, wie er damals einer war, es tut, wenn ihm was zu bunt wird. „Da hat der Franzos mich erwischt.“ Der Franzos.

In den Gefangenenlagern mussten sie schwer arbeiten, auch hungern. Er hat Bildchen gemalt, wenn er einen Fetzen Papier fand. Es gegen Essen eingetauscht. Oft hat er kunstvolle Initialen entworfen – die ersten Buchstaben der Namen von Kameraden. WH, Willi Hess, an den erinnert er sich noch. Einen Namen haben, das heißt: sein. Manchmal hat jemand ein Stück Brot gegeben gegen ein Bild. Oder Zigaretten. „Gauloises oder Trüp“. Wie man „Trüp“ schreibt? „‚T r o u b e‘ vielleicht“, sagt er und beschreibt die Packung. Dazu malt er mit der Hand ein Rechteck in die Luft. „So grau war sie.“

Entlassen aus der Gefangenschaft wurde er nach einem Jahr – „krankheitshalber“. Seine Nieren hatten versagt, sein ganzer Körper war aufgeschwemmt. Als er mit seinem Wasserkopf vor der Tür stand zum kleinen Haus mit dem Rosengärtchen davor, Hauptstraße, wo er heute noch wohnt, auch wenn es jetzt Bundesstraße heißt, ein Haus mit abgewetzten Steinfußböden und Außenklo, es liegt im Schatten des alten Rimsinger Schlosses, erkannte ihn seine elf Jahre jüngere Schwester, die Liesel, nicht. „Das ist nicht unser Ernst“, habe sie gesagt. Der Doktor Vogel hat ihn dann aufgepäppelt“, erzählt sie noch. Sie bekocht ihn seit Jahren jeden Tag. Ist für ihn da. Er für sie. Sie, die Extrovertierte, er das Gegenteil. Sie macht noch die Reben, den Garten. „Hoffentlich hagelt es nicht.“ Das Wetter, „muddlig“ sei es, launisch – es gefällt ihr nicht.

„Ein Jahr lang war der Ernst damals krank“, sagt die Schwester. Der Ernst. Im Südbadischen haben Menschen nicht nur Namen, sie kommen mit Artikel davor: der Ernst, *1926, die Liesel, *1937, der Sepp, *1923, der ältere Bruder.

Denkst du oft an den Krieg? Onkel Ernst winkt ab. „Fürs Kaputtmachen war ich nicht so.“ Ihn hat Verehrung, Ergebenheit interessiert. Die zu seiner Mutter, die zu Gott. Und fürs Schöne war er. Für Pflanzen, Vögel, Landschaften. Die malte er noch auf das kleinste Stückchen Papier. Schon der Lehrer in der Volksschule schenkte ihm einen Malkasten, weil er es so gut konnte – eine Auszeichnung. Er geht die zwei Schritte bis zur Kommode und holt einen abgegriffenen Briefumschlag heraus. Drin sind noch mehr Sterne. Manchmal auch Blumen. Die neueren Bilder sind mit dickeren Strichen, mit flächigeren Farben gemalt. Einer – ein „Verruckter“ – fällt aus der Symmetrie. Onkel Ernst sortiert die Bilder in kleine Mappen, die er aus Altpapier schneidet.

Nach dem Krieg wurde der Onkel Ernst Mechaniker. Nicht freiwillig. Nicht unfreiwillig. Man machte, was man machen musste. Das war „anne dazemal“ so. Weil sein Vater Mechaniker war und vom autoritären Schlag, wurden auch dessen Söhne Mechaniker: Schwab & Söhne. Einmal nur gab es einen Versuch: Lass ihn auf die Kunstschule, hatte der befreundete Architekt, „der Kaiser“, zu seinem Vater gesagt, als der die Werkstatt ausbauen ließ für den ältesten Sohn. Der Vater sagte: „Nein.“ Und: „Wir haben kein Geld.“ Onkel Ernst zieht die Schultern hoch. „Ich war kein Revoluzzer.“

Im Gegenteil: Solange seine Parallelwelt im Kopf existierte, machte er alles. Arbeitete von morgens bis in den Abend. Ora et labora. Fünfzig Jahre lang reparierte er Fahrräder, Traktoren, Landmaschinen, Wasserleitungen im Dorf, Motorräder – DKWs. Selbstständig, abhängig, mithelfender Familienangehöriger. Selber fuhr er auch so ein altes DKW-Motorrad. Das fing ja „dazemal“ alles erst an. Dazu die Dorfgemeinschaft, der Sportverein, der Musikverein, das Eingebundensein. „Kleiner Tambour“ war er, erzählt er, obwohl ihm das mit der Musik nicht so richtig lag. Die Kriegsgräberfürsorge, das Blutspenden zählt er noch auf. Blutgruppe B negativ. Eine seltene.

Wenn man ihn aber ließ, malte er. Erst die Kulissen fürs jährlich wechselnde Theaterstück, das im Dorf zu Weihnachten von den Vereinen aufgeführt wurde, „Heimweh am Wolgastrand“ oder „Trauringel“ oder „Der Herrgottschänder“ hießen die. Auch Festplakate malte er und die Ankündigungen vom Sportverein, wenn ein Spiel war: Ober- gegen Niederrimsingen zum Beispiel. Eine große Sache. In Frakturschrift schrieb er die Plakate und hängte sie beim Hirschen, beim Löwen auf.

Schriften konnte der Onkel Ernst. Später, als das mit dem Theaterstück eine Zeit lang aufhörte, weil kein Verein sich die Arbeit ans Bein binden wollte, und das Plakatmalen auch aufhörte, weil man kopieren konnte, fing er an, mit Resten von Autolack Blumen auf Metallplatten oder Holzscheiben zu malen. Autolack – damals noch flüssig wie Öl und ewig nicht trocken. Versunken er – die dunkle Werkstatt, der Autogeruch, das schwarze, von der Schmiere konservierte Holz der Werkbank: Wie nicht mehr da.

Wenn das nicht ging, weil er im Tankwartraum saß und Dienst hatte an Sonntagen, an Feiertagen, malte er auf der Rückseite der Quittungsblöcke. Er konnte in den Rückseiten versinken. „Malt er wieder“, sagen die Erwachsenen. „Malst du mir was?“, sagen die Kinder. Manchmal gab er auch verzierte Quittungen heraus, wenn jemand beim Tanken nach einer fragte. 20 DM, Normalbenzin, und ein Tulpenbouquet dazu. Er zeigt den alten, verwaisten Tankwartraum von außen, Fünfzigerjahrearchitektur, zeigt, wo die Zapfsäulen standen. Hineingehen will er nicht mehr.

Der Onkel Ernst war siebzig ungefähr, als er zum ersten Mal einen Stern sah und dachte, den müsse er malen. Er stand am Fenster in der niederen Stube neben dem verblassenden Bild mit der Schafherde und dem Schäfer, das seine Eltern an genau dieser Stelle aufgehängt hatten vor ungefähr achtzig Jahren, und sah auf den Kirchturm. Da habe er die Sonne so hinter dem Kreuz gesehen, „Kritz“, das oben auf der Kirchturmspitze steht, erzählt er. Und die Sonne war ein Stern.

Stern – Ernst, es sind die gleichen Buchstaben. Ein Anagramm. Nur das „st“ ist vertauscht.

Damals mit siebzig, musste er an Sonntagen immer noch Tankwart sein. Manchmal hörte und sah er nicht, dass jemand vorgefahren war, wenn er in die Sternenwelt ging. Denn wo ein Stern ist, ist auch ein zweiter. Und ein dritter, vierter, fünfter. Aber es dauerte eine Weile, bis der Onkel Ernst das richtige Format fand für die Sterne: neun mal neun Zentimeter – Schreibklotzformat. Auch die Papieroberfläche muss stimmen. Denn wenn es nur mit Augenmaß gemacht wird, wird viel radiert.

Woher er die Ideen hat? Er schaue auf die Tischdecke

Am Anfang wurde das mit dem Ernst und den Sternen nicht ernst genommen. „Er molt Schternli“, sagte der Sepp, sein Bruder. „Er molt Schternli“, sagten andere. Nur seine Schwester sagte: „Er molt Schternli und keins sieht we’s ander üs.“ Und wenn sie ihn fragt, woher er denn die vielen Ideen hat, antwortet er, dass er mal auf die Tischdecke schaue und dann da im Muster was sehe. Die Tischdecke ist abgewetzt.

Ein anderes Mal ist es eine Pfütze, in der er den Stern erkennt. Und wieder ein anderes Mal ist es der Blick auf einen Kaktus von oben, wenn er mit kleinen Schritten zum Klo schlurft und an ihnen vorbeikommt. Die Ideen seien überall. „Was der sieht. Der Mann muss Augen haben wie ein Sperber“, sagt seine Schwester. Und er sagt, es kämen ihm Ideen, „solang de Kerli noch lööge ka“. Lööge – sehen. Der Onkel Ernst spricht mitunter von sich als dem Kerl. Vor allem wenn es ihm schlecht geht, er keine Energie hat, keinen Mumm. „De Kerli het kei Murr.“

Der Onkel Ernst hat sein ganzes Leben lang gearbeitet. Frau, Kinder? Nein. Seine Sehnsucht ist eine andere: die, im Schönen, das er schafft, aufzugehen. Wenn er Sterne malt, gelingt es. Dann spürt er sich. Das Gefühl trägt ihn. Es hat ihn durch den Krebs getragen. Die Speiseröhre. Inoperabel. Im Krankenhaus begann er – wie damals in Gefangenschaft – wieder Initialen zu malen, von den Ärzten, den Schwestern, er schenkte sie ihnen. Einen Namen haben: sein.

Und was macht ihn traurig? Ja, das sei eine andere Geschichte. Dass die Pläne für die Weihnachtskrippe verbrannt wurden, das mache ihn traurig. Damals nach dem Krieg baute er für die Dorfkirche eine opulente Weihnachtskrippe, die alte war kaputt. Er baute einen Stall, umgeben von einer Stadt mit Palästen, mit Häusern wie sie im Heiligen Land gebaut wurden: Jerusalem, Betlehem. Ein Foto hatte der Pfarrer ihm gegeben und er hat aus dem Foto die Architektur der Stadt ins Modell übertragen, Pläne gemalt. Über Monate bauten die jungen Heimkehrer diese Krippe. Die Pläne wurden später verbrannt. Beim Ofen anheizen waren sie Zunder. „Hättest du doch aufgepasst, wärst du doch nicht so leichtsinnig gewesen“, sagt er. Es regt ihn bis heute auf, grimmig wirft er die Hände in die Luft. Aber was nützt es, das „hättest du“, das „wärst du“ – das „hätsch doch“, das „wärsch doch“.

Dann zu seinem Achtzigsten im November 2006 die Ausstellung. „Die Sterne vom Ernst Schwab“. Das ganze Dorf kam. Die Badische Zeitung schrieb über ihn. Wein wurde ausgeschenkt. Er hat sich gefreut. Diese Anerkennung. Die Leute haben ihm sogar was gegeben für die Sterne. Es kamen auch Fremde, die es gelesen hatten in der Zeitung. Manche traten in den gläsernen Tankwartraum, sagten noch auf der Schwelle „ach, Mandalas“, schauten sich um, schwiegen, begannen von ihren Reisen nach Granada oder Casablanca oder in die Anden zu erzählen, den Fenstern von Notre Dame. Leute, die ihn kannten, waren von Anfang an weich. Eine junge Frau aus Niederrimsingen sagte: „Jetzt weiß ich, dass man auch mit siebzig noch anfangen kann, das zu machen, was man immer machen wollte.“ Ein Mann, mit dem er sonntags nach der Kirche auch mal im Hirschen am Stammtisch sitzt, die anderen Alten über die Welt redend, er sie in sich träumend, sagte, dass die Welt besser wäre, wenn alle so wären wie der Ernst. Und eine Frau aus Hochstetten, die extra vorbeikam, war erschüttert. Über sich: „ ‚S’Männle‘ nannten wir ihn. Wir gehen zum ‚Männle‘. Wenn ich das gewusst hätte, dass er so ein Künstler ist, ich hätte ihm nicht erlaubt, mir die Windschutzscheibe zu putzen beim Tanken.“

Waltraud Schwab, sonntaz-Redakteurin, ist eine seiner Nichten