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Archiv-Artikel

Heißes Gummi ohne Stiefel

Über die Großspurhelferlein von Live 8 kann man im dänischen Roskilde nur lachen: Hier wird Jahr für Jahr allein für den guten Zweck musiziert. Wenn dann noch die Sonne dauernd scheint und Bands wie Bright Eyes, Sonic Youth und Chic spielen, ist auch die Liebe zu diesem Festival dauerhaft groß

Die Ladung Gummistiefel, die der Haushaltswarenladen in der Fußgängerzone von Roskilde abends vor dem Festival noch in seinen Laden räumte, waren eine Fehlinvestition. So wie es im letzten Jahr nicht aufhören wollte zu regnen, schien dieses Mal bis auf rund drei Stunden nachts immer die Sonne. Das hat zwar auch Nachteile – selten hat man so viele oft verdammt einladende, aber leider auch völlig verbrannte Wikinger gesehen. Dafür ist die Atmosphäre aber wesentlich relaxter, wenn Bikinoberteile und nackte Waschbrett- und Bierbäuche dominieren. Wenn nur der immer beißender werdende Geruch rund um Zäune, Gebüsche und Bäume nicht wäre. Die Mixer der Gringo Bar, einer Bretterbude mit teuren Cocktails, rückten jedenfalls immer weiter an die rechte Seite der Theke, wo Limonen noch stärker dufteten als aufgekochte Wikingerpisse.

Solch deftige Sprache entschuldigt, wer je die hygienischen Bedingungen in Roskilde erlebt hat. Auf dem Mediacampinggelände gab es für hunderte Menschen gerade mal sechs Dixiklos und einen einzigen Wasserhahn, an dem sonst der Gartenschlauch angeschlossen wird.

Dafür nimmt man es mit den Regeln („The rules are the rules“) jedes Jahr genauer. Diesmal mussten wir dreimal das Zelt umstellen, weil die Aufpasser des Festivals meinten, Zelte dürften niemals neben Wohnmobilen stehen. Die Logik: Wenn das Wohnmobil explodiert, wird das Zelt daneben Feuer fangen.

Durch die Umzüge bildeten sich aber netterweise immer neue Kleinkommunen. Ich landete in einer Gruppe aus Mittzwanzigern aus Malmö, die eine angepunkte Römerin dabeihatten, die sich ständig über das langweilige Schweden aufregte, sowie eine coole Osloerin, die das halbe Festival verschlief und die andere Hälfte einen Liebesroman las. Die Malmöer, die Bier ablehnen, weil es zu langsam betrunken macht, fragten zur Begrüßung immer: „You want a gin?“ Auch zum Frühstück.

So weit also alles prima mit der Woodstock-Mythosverlängerung. Nur das Musikprogramm macht einem langsam Sorgen. Es fehlen zu viele relevante Bands. Zwar kann man in Roskilde im Bereich Indiepop und Worldmusic (großartig die Brasilianer von Bnegao & Os Seletores De Freqüencia) immer Entdeckungen machen und sieht klasse Konzerte von Bright Eyes, The Faint oder 13 & God.

Aber noch nie zuvor hat man sich für die Headliner dieses Festivals so geschämt. Duran Duran? „Learn To Survive“ widmete die Band „den Afrikanern“. Die öden Audioslave oder die stumpfen Foo Fighters? Dänenrock von D-A-D? Das reichte diesmal erstmals nicht zum Prädikat „ausverkauft“. Scheintote wie Ozzy O. von Black Sabbath (die gegen alle Erwartung einen Klasseauftritt hinlegten; nur ging Ozzy trotz Trinkens aus einer Tasse und des folgenden Sprayens von irgendwas in den Hals nach 90 Minuten leider die Puste aus) und der ausgelaugte Altersheimsurfer Brian Wilson, der einige tapfere Roskilder, die 185 Euro für allerdings 160 Acts geblecht hatten, um ihren Spaß betrog (75 Minuten), weil er am gleichen Auftrittstag noch bei allen Live-8-Shows spielen wollte.

Dumm, dass es die Concorde nicht mehr gibt, mit der Genesis einst zu den „gleichzeitigen“ Band-Aids jettete. Sexist Snoop Dogg im blau-weißen Schlafanzug hatte Pech, sein Sound war etwas dünn und vor allem sah er nicht das Mädchen, das einfach nur einen luftigen Blumenkranz trug über dem Busen.

Green Day waren die Einzigen, die aus den Live-8-Auftritten am gleichen Tag scheinbar noch Energie gezogen hatten. Der Green-Day-Sänger zog zum Höhepunkt drei Freiwillige aus der Masse der 40.000 vor der Orange Stage, die sich per Handzeichen gemeldet hatten, um Schlagzeuger, Gitarrist und Bassist zu ersetzen. Die drei bekamen einen kompletten Song hin, und der Hobby-Gitarrist küsste die Green Days zum Dank auf den Mund und bekam eine Gitarre geschenkt.

In solchen Momenten liebt man Roskilde. Sogar die betrunkenen SMS-Kinder. Das Leuchten der sechs Zeltbühnen in der Nacht. Dann möchte man bei Sonic Youth am liebsten in die Boxen krabbeln. Dann auch noch die genialen, echten Chic zu sehen! Ein Lebenstraum. „Upside Down“, „We are Family“ und „Le Freak“. Lange hat man nicht so happy getanzt und Fremde angegrinst und mit ihnen gesungen. Dann ist Roskilde eine Droge, die man sich jeden Tag in die Vene spritzen möchte. Nie wieder Normalos um einen rum! Ein Leben in der perfekten Musikzeltstadt, wo von mittags bis nachts immer irgendeine Lieblingsband spielt.

Wer Geld braucht, sammelt ein paar Plastikpfandbecher (ich brauchte nur rund 15 Minuten für die 20 Kronen für ein kleines Bier) oder arbeitet freiwillig in einem der Restaurants. Tatsächlich muss hier jeder der rund 20.000 Freiwilligen insgesamt 24 Stunden zum Beispiel Nudeln kochen oder als Crowd Safety in orange Weste auf die anderen aufpassen. Alle Überschüsse gehen an die örtlichen Sportvereine und Grüppchen, die mitmachen.

Letztes Jahr spendete das Festival 60.000 Euro für ein medizinisches Projekt in Palästina. Diesmal wird man Profite an DanChurchAid spenden, die in Kambodscha gegen modernen Menschenhandel kämpfen. Mitarbeitern in T-Shirts mit der Aufschrift „act against slavery“ konnte man seinen leeren Bierbecher geben als 1-Krone-Spende. In 30 Jahren Non-Profit-Roskilde-Festival wurden 85 Millionen Kronen weltweit gespendet. Auch deshalb kann man in Roskilde über die großspurige Attitüde von Live 8 nur lachen. Die Gummistiefel kaufen wir dann nächstes Jahr. ANDREAS BECKER