: Ein Foto aus Wilna
ZEITGESCHICHTE Litauer, Juden, Polen: Im ehemaligen „Jerusalem des Nordens“ gibt es so viele Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, wie es Nationalitäten gibt. Eine Reportage
VON UWE RADA
Es dauert etwas, dann hat sie das Foto gefunden. Fania Brancovskaja schiebt es über den Tisch, schaut auf, sagt: „Meine Familie“. Ein Onkel aus Kaunas hat das Foto geschossen, irgendwann im Sommer 1939, da hatten die Sowjets das damals polnische Wilna noch nicht besetzt. „Sehen Sie“, fordert Brancovskaja und glättet die Fotografie mit Daumen und Zeigefinger, „das bin ich, das ist meine Mutter, das ist mein Vater, meine Schwester. Mein Vater ist umgekommen in Estland, die Mutter in Riga. Die Schwester in Stutthof. Der Onkel ist umgekommen in Kaunas. Die übrigen in Ponar. Ich bin mit meiner Cousine die einzige, die von der Familie geblieben ist.“
Fania Brancovskaja ist 87 Jahre alt. Dreimal in der Woche betreut sie die Bibliothek des Jiddischen Instituts an der Universität Wilna. Drei weitere Tage verbringt sie im Zentrum der jüdischen Gemeinde in der Pylimostraße 4. Fania Brancovskaja ist eine der letzten Überlebenden des Wilnaer Gettos. Die Erinnerung an den Holocaust und den Widerstand gegen die Nazis ist ihr zur Lebensaufgabe geworden. Und natürlich das jüdische Leben in Wilna, diesem „Jerusalem des Nordens“, das die Juden Wilne nannten.
Das gibt es nicht mehr, es wurde in nur drei Jahren deutscher Besatzung vernichtet. Mit ruhiger Stimme erzählt Fania Brancovskaja, dass sie sich mit anderen Überlebenden zweimal im Jahr im Wald von Ponar trifft, jenem Ort südwestlich von Wilna, an dem das „Jerusalem des Nordens“ begraben liegt. 70.000 Juden wurden in Ponar zwischen 1941 und 1944 erschossen. Für Brancovskaja ist das Gedenken in Ponar auch ein Symbol für den Wandel der litauischen Erinnerungskultur.
„In der sowjetischen Zeit“, sagt sie, „suchte man auf dem Denkmal vergeblich nach dem Hinweis, dass hier Juden ermordet wurden. Die Opfer, so stand es da, waren unschuldige sowjetische Bürger.“ Erst mit dem demokratischen Litauen wurde ein entsprechender Hinweis angebracht.
Noch schwieriger war die jüngste Änderung im Gedenken an die Opfer von Ponar. Doch nun steht es da, schwarz auf weiß. Die Täter waren die Nazis und ihre örtlichen Helfer. „Ihre örtlichen Helfer“, wiederholt Brancovskaja kopfschüttelnd. „Es hat lange gebraucht, um die zwei Wörter hinzuschreiben.“
Konkurrierende Erinnerungen
Siebzig Jahre nach seinem Beginn ist die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in der litauischen Hauptstadt noch immer geteilt. Für die polnische Minderheit beginnt der Krieg am 17. September 1939. Zweieinhalb Wochen nach dem Deutschen Angriff auf Polen marschierte die Rote Armee im Osten des Landes ein.
Mit Wilna aber schien Stalin zunächst nichts anfangen zu können. Kaum von den Polen erobert, gab er die Stadt den Litauern als Hauptstadt zurück – ein Danaergeschenk, wie sich später erweisen sollte, denn am 15. Juni 1940 kamen die Sowjets erneut, und Litauen wurde Teil der Sowjetunion.
Mit der ersten Besetzung durch die Sowjetunion, so das nationale Narrativ Litauens, begann die Zeit der Verfolgung und Unterdrückung, die erst mit der Unabhängigkeit endete.
Für die Juden schließlich war die entscheidende Zäsur der deutsche Einmarsch am 22. Juni 1941. Zwei Monate nach der Besetzung Wilnas durch die Deutschen wurde das Getto rechts und links der historischen „Deutschen Straße“ eingerichtet, in das auch Fania Brancovskaja ziehen musste. Schon zuvor waren Tausende im Wald von Ponar erschossen worden.
Drei Nationen, drei Daten, drei Erinnerungen. Es gibt zu dieser Konkurrenz historischer Narrative eine optimistische und eine weniger optimistische Formel. Die optimistische stammt vom litauischen Dichter Tomas Venclova. Wilna könnte, sagt er, einmal ein „Straßburg des Ostens“ werden, zu einem Sinnbild für das Zusammenwachsen Europas. Doch auch das Kontrastbild wurde bereits bemüht: Wilna als litauisches Sarajevo, die Konkurrenz der historischen Erzählungen als Zerfallsprodukt der multikulturellen Stadt.
Straßburg oder Sarajevo? Für Alvydas Nikžentaitis ist das nicht nur abhängig von den Erzählungen der nationalen Minderheiten. „Kurz nach der Wende“, erinnert sich der Direktor des Historischen Instituts der Universität Wilna, „hat die litauische Erinnerungspolitik alle Ethnien umfasst.“ Historischer Bezugspunkt war das Großfürstentum Litauen, das seit dem 14. Jahrhundert in Personalunion mit dem Königreich Polen existierte, von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichte und Litauern wie Polen, Juden, Weißrussen und Ukrainern eine Heimat war.
„Nun aber“, sagt Nikžentaitis, „erleben wir eine Renationalisierung der Erinnerung.“ „Ausgangspunkt der offiziellen Erinnerungspolitik ist eine nationale Erzählung, die das litauische Erinnern in eine Opfererzählung presst, demgegenüber die Sowjets als Täter stehen.“
Zauberformel Druskinikai
Doch das ist den Architekten nationaler Erinnerungspolitik noch immer zu wenig. Nachdenklich schaut Alvydas Nikžentaitis auf den Knast gegenüber dem Institutsgebäude. „Wenn das Gesetz beschlossen wird, das gerade im Parlament diskutiert wird“, prophezeit er, „dann kann es sein, dass einer meiner Mitarbeiter tatsächlich ins Gefängnis muss.“
Das Gesetz, klärt er auf, sehe vor, nicht mehr negativ über den Kampf der litauischen Partisanen gegen die Sowjetunion berichten zu dürfen.
„Der Kollege arbeitet an einer Dissertation, in der untersucht wird, welche Opfergruppen es beim Partisanenkampf gab“, erklärt Nikžentaitis. „Die meisten Opfer gab es in der Zivilbevölkerung, und nicht bei der Roten Armee. Es gibt also auch eine andere Seite der Wahrheit.“
Doch die kommt im offiziellen Erinnern nicht vor. Nicht weit von Nikžentaitis’ Institut steht das ehemalige KGB-Gebäude. Heute beherbergt es das staatliche Museum für die Opfer des Genozids. Das erinnert aber nicht an die 220.000 Juden in Litauen, von denen nur 12.000 überlebt haben. Gewidmet ist es vielmehr den 140.000 Litauern, die während der ersten und zweiten russischen Besatzung nach Sibirien deportiert wurden sowie den 20.000, die in KGB-Haft zu Tode kamen. Aber auch die Heldengeschichten kommen nicht zu kurz. Von 1944 bis 1953, dem Jahr, in dem Stalin starb, kämpften 30.000 Partisanen in den Wäldern gegen die sowjetische Herrschaft. Ihnen ist nicht nur der wichtigste Teil der Ausstellung gewidmet. Gegenüber dem Museum für die Opfer des Genozids soll demnächst auch ein Denkmal für die Partisanen errichtet werden – als vorerst letztes Wort der litauischen Erinnerungspolitik.
Sarajevo oder Straßburg? Für Czesław Okińczyc lautet die Zauberformel Druskinikai. OkińĽczyc, einst Politiker, nun Anwalt, gehört zur polnischen Minderheit, doch mit ihren Vertretern hat er nicht viel zu tun.
Als Abgeordneter im litauischen Parlament, dem Seimas, stimmte er 1991 für die Unabhängigkeit Litauens. Die Mehrheit der Polen hatte im Referendum mit Nein votiert. Auch mit dem Bund der Polen in Litauen legte er sich an. Allzu deutlich hatte sich der auf die Seite Moskaus gestellt und während des Putsches im August 1991 sogar die Sowjetfahne an den Rathäusern der Gemeinden im Umland von Wilna gehisst, dort, wo die Polen teilweise bis zu 80 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Die Reaktion der Litauer: Die polnisch dominierten Regionsräte wurden kurzerhand aufgelöst.
Czesław Okińczyc ist ein Wanderer zwischen zwei Kulturen. Manchmal schreibt er seinen Namen auf Polnisch, am Sitz seiner Anwaltskanzlei am noblen Gedimino-Prospekt prangt dagegen ein goldenes Schild, auf dem sein litauischer Name steht: Česlav Okinčic. Nicht polarisieren will er, sondern versöhnen. Bestes Beispiel dafür sei der litauische Kurort Druskininkai an der Memel, das, wie er es nennt, Baden-Baden von Litauen. „Neunzig Prozent der Kurgäste dort kommen aus Polen, doch keiner fordert mehr, dass Druskinikai dem polnischen Staat angeschlossen werden soll.“
Stattdessen würden die Belange der Region nun so besprochen, wie es in Europa Usus ist. Das liege daran, dass die Themen der Gegenwart und der Zukunft die der Vergangenheit abgelöst haben: „Polen und Litauen sind in der EU, sie sind in der Nato, sie treiben Handel, da verschwinden viele Probleme von alleine.“
Der Wald von Ponar – Symbol der Erinnerung
Zukunft ist auch das Thema von Indre Joffyte. Als Litauen 1991 unabhängig wurde, war sie neun Jahre alt. „Eigentlich“, erinnert sie sich, „war alles normal an meiner Familie.“ Einmal im Jahr aber ging ihr Vater in den Wald. „Er besuchte dort ein Denkmal, das gab es schon zu Sowjetzeiten.“
Nach und nach erfuhr Indre, dass ihr Vater aus einem Schtetl stammte, das im litauischen Kuliai, auf Jiddisch Kool hieß. Es war der Wald von Ponar, den ihr Vater besuchte, jener Ort, der für die Getto-Überlebende Fania Brancovskaja zum Symbol der litauischen Erinnerung an den Holocaust wurde. Es war nicht einfach für Indre, die jüdischen Geschichte ihrer Familie herauszufinden. „Mein Vater sprach nicht gern darüber, so wie auch sein eigener Vater nicht darüber reden wollte.“
Wäre es 1991 nicht zur Unabhängigkeit gekommen, ist sich Indre Joffyte sicher, wäre sie heute eine ganz normale Litauerin, deren Familiengeschichte nach und nach vergessen worden wäre. Doch die neue Zeit war auch die Zeit der Fragen. Warum haben so wenig Litauer Juden versteckt? Warum gab es so viele Kollaborateure? Warum wurde in der Sowjetzeit darüber geschwiegen? In Indres Familie wurde das Schweigen gebrochen, wenn auch langsam. „Mein Großvater hat zwar nicht über seine Geschichte gesprochen, doch irgendwann hat er jiddisch gekocht. Und kurz bevor er starb, hat er mir die Familienfotos gezeigt. So habe ich erfahren, dass er eine kleine Schwester hatte, die während des Kriegs ums Leben kam.“
Ruhig, in fließendem Englisch, erzählt die heute 27-jährige Indre die Geschichte ihrer Familie. Heute, sagt sie, fühle sie sich eher als Jüdin denn als Litauerin. Nach Israel will sie aber nicht auswandern. „Ich bin ein Litwak“, sagt sie stolz. Auch wenn Litwaks wie Barbra Streisand oder Woody Allen heute über alle Winde verstreut leben, haben sie ihre litauischen Wurzeln nie vergessen – und auch nicht ihre Sprache, das Jiddische.
Auch Indre Joffyte hat Jiddisch gelernt, am Jiddischen Institut der Universität Wilna, an der Fania Brancovskaja die Bibliothek betreut. Inzwischen hat sie sogar einen Job als Koordinatorin des alljährlichen Sommerprogramms, bei dem Studierende aus aller Welt zusammenkommen, um die Sprache ihrer Eltern und Großeltern zu lernen.
Erinnerung, das ist für Indre Joffyte jedoch weniger eine Sache der Politik als eine Sache der Sprache. „Noch immer ist die Emigration unter den 5.000 Juden nach Israel sehr stark“, beklagt sie. In der jüdischen Schule in Wilna wird zwar Jiddisch für jene, die es wollen, unterrichtet, die Hauptunterrichtssprache aber ist Hebräisch. „Die meisten besuchen die Schule, um nach Israel auszuwandern und nicht, um hier zu bleiben.“
Indre Joffyte aber will bleiben, in einer multikulturellen Stadt. Das Sommerprogramm des Jiddischen Instituts ist für sie eine Art Kontrastprogramm zum neuen Nationalismus der litauischen Erinnerung an die Geschichte. „Da kommen sie von überall in die Stadt, aus New York, aus Polen, aus Deutschland und sogar aus Litauen.“
Während Indre Joffyte erzählt, hat Fania Brancovskaja geschwiegen. Am Ende aber steht sie auf und holt noch einmal das Foto, das ihr Onkel aus Kaunas geschossen hat. Auch für Fania Brancovskaja war das Familienfoto eine Entdeckung. Gesehen hat sie es zum ersten Mal nach der Unabhängigkeit. „Ich war in Israel bei einer Cousine, und die hat gesagt: Ist gut, dass das Foto ist 50 Jahre bei mir gewesen, jetzt soll es bei dir sein.“
Fania Brancovskaja nahm die Cousine aus Israel beim Wort. Die Geschichte ihrer Familie sollte, für alle sichtbar, ein Teil der Geschichte von Wilna sein. „Wissen Sie, wo das Foto heute hängt?“, fragt die alte Dame, zieht mit dem Lippenstift die Lippen nach und lächelt. „Im jüdischen Museum von Wilna, ganz groß hängt es da, über dem Eingang, so, dass es alle sehen können.“