: Als China kannibalistisch war
VOLKSREPUBLIK CHINA Yang Jisheng legt die erste umfassende Dokumentation der Hungerkatastrophe der Jahre 1958 bis 1962 vor, bei der mehr als 36 Millionen Menschen starben
VON DETLEV CLAUSSEN
Die existenzielle Not begleitet wie ein Schatten die mehrtausendjährige chinesische Zivilisation. Die regelmäßige Wiederkehr von Überschwemmungen und Dürre zwang die Chinesen, erfindungsreiche Techniken des Überlebens zu entwickeln. Hunger jedoch ist nicht nur Folge einer grausamen Natur, sondern auch Zeichen schlechter Herrschaft.
Die maoistische Propaganda der 50er Jahre setzte auf die „eiserne Reisschüssel“, aus der sich alle Chinesen satt essen sollten. Am Ende des ersten Jahrzehnts kommunistischer Parteiherrschaft war die Reisschüssel für Millionen Menschen aber leer. Der 1958 in Szechuan geborene Schriftsteller Liao Yiwu nannte Hunger seinen Lehrmeister: „Und wenn auch der Himmel über mir einstürzt, zuerst werde ich essen, bis ich satt bin.“
Brechts vulgärmaterialistische Maxime „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ ist durch die große Hungersnot unter kommunistischer Parteiherrschaft von 1958 bis 1962 auf grausamste Weise Wirklichkeit geworden. Der andauernde Hunger führte zu einem moralischen Zusammenbruch der chinesischen Gesellschaft in zentralen Teilen des Landes. Das unübersehbare Anzeichen einer zivilisatorischen Katastrophe ist der Kannibalismus, über den der Mantel des Schweigens ausgebreitet wurde.
Liao Yiwu hat 2002 wie mit einer Sonde der Hungersnot, der er als Kind beinah zum Opfer gefallen wäre, nachgespürt, als er den pensionierten Arbeitsgruppenleiter Zheng Dajun fragte, warum die Partei den Kannibalismus nicht härter unterdrückte. Der moralisch einwandfreie Herr Zheng antwortete: „Die harte Wahrheit war, dass die Überlebensrate von denen, die Menschenfleisch aßen, höher war als von denen, die Erde aßen.“
Man mag das gar nicht glauben, aber jetzt hat der Journalist Yang Jisheng mit „Grabstein“ eine monumentale Untersuchung der Hungerkatastrophe vorgelegt, die man gelesen haben muss, wenn man über das nachrevolutionäre China mitreden will. Dort heißt es: „Der Hunger gegen Ende war entsetzlicher als der Tod selbst.“ Und weiter: „Mäuse und Ratten, Baumwolle, alles hat man sich in den Bauch gestopft. Wo man Guanyin-Erde, eine Art fetten Lehms, ausgegraben hat, hat man sie sich schon beim Graben in dicken Klumpen in den Mund geschoben. Die Leichen der Toten, Verhungernde von außerhalb, selbst eigene Verwandte hat man zu Lebensmitteln gemacht.“
36 Millionen sind, mitten in Friedenszeiten, verhungert – Folge einer katastrophalen Politik. Nicht nur beraubte man die Bauern ihrer Lebensmittel, sondern auch der Mittel, die es erlaubten, sich in der Not selbst zu helfen, wie es im traditionalen China noch möglich war. 1958 hatte die KP den chinesischen nachstalinistischen Frühling („Lasst 100 Blumen blühen!“) längst beendet und konzentrierte sich auf den Kampf gegen die sogenannten Rechtsabweichler, die ein realistisches Bild von China entwarfen und dieses zur Grundlage einer behutsamen kommunistischen Entwicklungspolitik machen wollten. Mao dagegen propagierte den „Großen Sprung nach vorn“, ein Bündel voluntaristischer Kampagnen, die China einen Entwicklungssprung ermöglichen sollten, den die bürokratische sowjetische Industrialisierungspolitik nach 1927, ebenfalls unter Hekatomben von Opfern, erreicht hatte.
Das strukturelle nachrevolutionäre Problem war ähnlich: Eine kommunistische Partei in einem agrarischen Land brauchte die Bauern, um die alten Mächte zu zerstören – nach der Revolution brauchte sie die Lebensmittel der Bauern, um die Städte zu ernähren. Um sich die bäuerlichen Überschüsse zu besorgen, zwang die KP die Bauern in eine Kollektivierung, die in China noch grausamer verlief als in der stalinistischen Sowjetunion. Der von Mao propagierte nachrevolutionäre „Klassenkampf auf dem Lande“ richtete sich nicht mehr gegen Großgrundbesitzer und Feudalherren, sondern gegen die Bauern.
Die Realität verleugnend
Die Revolution begann ihre bäuerlichen Kinder zu fressen. Man vernichtete die häusliche Wirtschaft; die Menschen wurden nicht nur in Volkskommunen gezwungen, sondern sie mussten sich von Volksküchen ernähren lassen. Die Familien besaßen weder Vorräte noch Kochtöpfe. Die Öfen funktionierte man zu Ministahlkochern um, die wertlose Metallklumpen produzierten. Gleichzeitig wurden ehrgeizige Wasserbau- und Verkehrsprojekte von zwangsrekrutierten Bauern durchgeführt, die der Landwirtschaft die Erreichung astronomischer Rekordplanziffern („Satelliten“) vollends verunmöglichten.
Die Ablieferungspflicht trieb die Bauern in den Hunger; das Saatgut wurde verfressen oder an die Städte abgeliefert. Nach einem Jahr hatte die bäuerliche Hand nichts mehr, was sie zum Munde führen konnte. Schon 1959, auf der berühmten Lushankonferenz, kritisierte Peng te Huai den „kleinbürgerlichen Fanatismus“; Mao drohte, falls man ihn absetze, die bäuerlichen Massen zu mobilisieren und einen Guerillakrieg gegen die Partei zu führen. Man hielt, die Realität verleugnend, noch Jahre an Maos Politik fest, die den „Lehrmeister Hunger“ auf den Plan rief und den Kannibalismus zu einer verleugneten gesellschaftlichen Realität machte.
Erst nach 1990 konnte Yang Jisheng diese Geschichte aufarbeiten. Er wollte einen Grabstein für seinen verhungerten Vater setzen; er hat einen Stelenwald der Erinnerung geschaffen, bei dessen Anblick sich dem Leser der Magen umdreht.
■ Yang Jisheng: „Grabstein – Mùbei. Die große chinesische Hungerkatastrophe 1958–1962“. Aus dem Chinesischen v. H.-P. Hoffmann. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2012, 800 S., 28 Euro