piwik no script img

Archiv-Artikel

Ein virtueller Ort im Second Life

NACHRUF Nichts lag ihm ferner als das Streben nach Reinheit. Zum Tod des französischen Regisseurs Chris Marker. Sein riesiges Werk aus Fotos, Filmen und Videos zirkuliert inzwischen größtenteils im Netz

„Unstillbare Neugierde“ trieb ihn an, so hat er es selbst beschrieben, in einem der wenigen Interviews, die er gab. Sie trieb ihn hinaus in die Welt, als Journalist zuerst und Autor. Er gab eine Buchreihe heraus, die die Länder der Erde in Monografien vorstellte, mit dreißig, da war er selbst schon weit herumgekommen. Über die Olympischen Spiele 1952 in Helsinki drehte er seinen ersten kurzen Dokumentarfilm, der nächste entstand während einer Reise durch China, „Sunday in Peking“. Dabei hatte er zunächst Philosophie studiert, im Widerstand gekämpft, mit André Bazin über Film geschrieben, einen Roman übers Fliegen und eine Monografie über Jean Giraudoux veröffentlicht, dazwischen mit Alain Resnais, einem Weggefährten fürs Leben, für dessen berühmte KZ-Dokumentation „Nacht und Nebel“ recherchiert.

Es folgten Filme aus Sibirien, Kuba, Israel, Korea, Japan, Berlin, Guinea-Bissau, von anderswo, überall. Die Neugier blieb nicht aufs Geografische beschränkt, er probierte alle Formen, balancierte und sprang zwischen Doku, Fiktion und Essay, nichts lag ihm ferner als das Streben nach Reinheit. Sein berühmtestes Werk, „La Jetée“, ist ein Science-Fiction-Fotoroman, zugleich ein Essay, eine Meditation, entstanden eigentlich am Rand eines größeren Films, „Le joli Mai“, der auch wunderbar ist, eine melancholische Betrachtung über den Mai 1968 in Paris. (1990 war Marker übrigens auch in Berlin, drehte „Berliner Ballade“, er musste sich selbst ein Bild machen vom Fall der Mauer.)

1999 veröffentlichte er eine CD-ROM, „Immemory“, gelockt durch die Potenziale der sich verzweigenden Pfade und möglichen Links zwischen den Elementen. Später, in den letzten Jahren, da war er schon über achtzig, besiedelte Marker einen virtuellen Ort im Second Life, veranstaltete eine Ausstellung dort, lud zu Chats, hatte als Kosinski einen eigenen Kanal bei YouTube, veröffentlichte dort zuletzt noch Videocollagen zu Steve Jobs und zum Skandal um Dominique Strauss-Kahn.

Wenige seiner Film wurden berühmt, „Sans Soleil“ von 1982 gehört dazu, ein weit ausgreifender Essay zu Japan, ein fantastisch wucherndes, springendes, gewaltiges, aber auch leichtfüßiges Gegenstück zu Roland Barthes’ „Reich der Zeichen“, nur dass Marker Nippon nicht mit der Seele des Semiotikers suchte, sondern neben der Theorie auch an tausend Dingen interessiert war, der Zukunft und der Erinnerung, elektrischen Graffiti, Takenoko und Rock, daran, „wie eine Ankündigung über Kurzwelle von Radio Hongkong, die auf einer Kap-Verde-Insel aufgeschnappt wird, auch Tokio erreicht; und wie die Erinnerung an eine ganz bestimmte Farbe auf der Straße in ein anderes Land springt, eine andere Distanz, eine andere Musik, endlos“. Außerdem ein langer Exkurs zu Hitchcocks „Vertigo“, einem Fetischfilm Markers, der aber auch Andrei Tarkowski bewunderte wie kaum einen anderen und einen klugen Film über ihn drehte, wiederum irgendwo zwischen Essay, Interpretation, persönlicher Begegnung kurz vor dem Tod.

Es gibt kaum Fotos von Chris Marker, der bei seiner Geburt Christian François Bouche-Villeneuve hieß, der die Legende in die Welt setzte, er sei in Ulan Bator geboren, er tritt gelegentlich in Filmen der Freunde Agnès Varda oder Alain Resnais auf, aber versteckt hinter Masken oder als Katze Guillaume-en-Égypte, die er sich als Symbol und Avatar wählte. Überhaupt Katzen: Lieblingstiere, sie sitzen und blinzeln in seinen Filmen, sie sind an Häuserwände gesprüht, sie hören Musik, sie grinsen wie bei Lewis Carroll, Chris Marker war ein spielerischer Cat-Content-Produzent über Jahrzehnte. Daneben gab es, he contained multitudes, den linken Aktivisten, der als Individualist, der er war, das Kollektiv propagierte und mit den Gruppen SLON und Groupe Medvedkine Arbeitern Kameras als Produktionsmittel in die Hand gab und ihnen beim Filmen ihrer Verhältnisse zur Seite stand. Sein eigenes Prinzip war nicht die Verdichtung zur Weißen-Elefant-Kunst (wie Manny Farber den Drang zum allzu Bleibenden nannte), sondern das Termitische, die Zerstreuung, kleinteilig, riesig, unübersichtlich ist sein Werk, das aus zig längeren, kürzeren, ganz kurzen Filmen, Videos, Clips und aus tausenden Fotos besteht; in großen Teilen ist es wieder und noch zu entdecken, viel zirkuliert inzwischen im Netz, wo sich auch die in alle Welt zerstreuten Verehrer versammeln. „Wird es einen letzten Brief geben?“, ist die Frage, mit der „Sans Soleil“ schließt. Wenn es einen gibt, der auch im Jenseits weiterdreht und aus dieser anderen Distanz mit einer anderen Musik über die Kapverdischen Inseln Kassiber zu uns Sterblichen schmuggelt, dann Chris Marker. EKKEHARD KNÖRER