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Archiv-Artikel

Simple Arithmetik

Die Dinge, die Zeit und die Literatur: Ingo Schulze stellte in Berlin seinen neuen Roman „Neue Leben“ vor

Sieben Jahre sind eine lange Zeit. Gerade im Literaturbetrieb, wo halbjährlich die neuen Renner ausgerufen werden wollen und zwei Jahre ohne Buch einen mäßig bekannten Schriftsteller ins Abseits katapultieren können. Selbst für einen Erfolgsschriftsteller wie Ingo Schulze sind sieben Jahre eine lange Zeit. Mit „Simple Stories“ legte er 1998 ein Buch vor, das mitunter als „Klassiker der Gegenwartsliteratur“ bezeichnet wurde und knapp, lakonisch und kongenial angelehnt an amerikanische Short-Story-Größen wie Raymond Carver die Wendezeit aus ostdeutscher Sicht beschrieb.

Umso mehr das Buch aber gefeiert wurde, umso stiller wurde es in der Folgezeit um Ingo Schulze. Sollte da ein junger Schriftsteller den großen, plötzlich lastenden Hoffnungen nicht gewachsen sein? Oder entzog sich da einer den Gepflogenheiten des Betriebes, nicht zuletzt, weil er es sich leisten konnte?

Vergessen scheint Schulze tatsächlich niemand zu haben. Als er am Dienstagabend im LCB in Berlin mit der Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen und dem Lyriker Lutz Seiler sein neues Buch vorstellte, den über achthundert Seiten fassenden Roman „Neue Leben“, drängte sich die Literaturkritik und viel Publikum eng an eng in den Räumlichkeiten des LCB. Lange hat man das Literaturhaus am Wannsee nicht mehr so ausverkauft gesehen, und da passt es bestens, dass „Neue Leben“ noch gar nicht fertig ist und erst im Oktober erscheint: Die Erwartungen sind groß und parallel dazu die Enttäuschung über die Gegenwartsliteratur der vergangenen Jahre.

Die Dinge bräuchten ihre Zeit, um literaturfähig zu werden, erläuterte Lutz Seiler, und tatsächlich, so Ingo Schulze, hätte es lange gedauert, bis er eine brauchbare Form für seinen neuen Stoff gefunden habe. Eine Novelle als Ausgangspunkt für den Roman sei schnell geschrieben gewesen, doch dann hätte er drei Jahre für den ersten druckfähigen Satz seines Buches gebraucht.

„Neue Leben“ ist nun ein Briefroman geworden. Ein gewisser Enrico Türmer, Theatermann, verhinderter Schriftsteller und angehender Zeitungsredakteur, erzählt sein Leben in der DDR und zur Zeit der Wende, und zwar in Briefen an einen Jugendfreund, an seine Schwester und an eine unerreichbare Geliebte. Und diese Briefe, die zweite (und dritte und vierte) Ebene des Romans, werden herausgegeben, kommentiert und mit einem Anhang versehen von einem Herren namens Ingo Schulze – ein Herausgeber, der nicht verwechselt werden sollte mit dem Autoren Ingo Schulze, wie Sylvia Bovenschen überflüssigerweise anmerkt, und der für Lutz Seiler bei der Lektüre zu einer hassenswerten Person wurde. Ja, gibt Schulze zu, das sei ein „zwanghafter Besserwisser“, wundert sich dann aber über so manch weitere Interpretationen: „Vielleicht nehme ich das noch auf, dreieinhalb Wochen habe ich ja noch Zeit.“

Ja, von Zeit war viel die Rede an diesem Abend, der sich zwei Stunden ausschließlich um „Neue Leben“ drehte: von Erzählzeit und erzählter Zeit, von DDR-Zeit und Wendezeit. Bisweilen hatte man das Gefühl, sich in Zeitlöchern zu befinden und beim Romanerklärungspatchwork nicht den rechten Durchblick zu bekommen. Den verschafft erst die „Neue Leben“-Lektüre, und vielleicht bestätigt sich dann, was Ingo Schulze als eines unserer wichtigsten Lebensgefühle beschreibt: „Wir alle versuchen gerade herauszufinden, in was für einer Zeit wir leben.“ Da sind sechzehn Jahre seit dem Mauerfall nichts und sieben Jahre für einen Roman erst recht nichts. GERRIT BARTELS