: Die Demonstration des Eigenlebens
Die Bewohner des Bremer Trabantenviertels „Grohner Düne“ erzählen ihre Geschichte(n) auf der DVD „13ter Stock“. In Bausteinen, die man sich selbst zusammensetzt
„Hier entsteht das Demonstrativbauvorhaben Grohner Düne“ stand in den Siebzigerjahren auf Baustellenschildern im Norden Bremens. Was die Städtebauer Westdeutschlands mit den überall entstehenden Trabantenvierteln demonstrieren wollten? Wer auf den Autobahnen an diesen sich gegenseitig beschattenden Betonkästen vorbeifuhr, verstand das von Anfang an nicht recht.
Die Bewohner der Hochhäuser kannte man ja nicht, man las nur in der Zeitung von ihnen: gewalttätig seien sie, gefährlich oftmals. Überhaupt, lebten da nicht auch diese immer mehr werdenden Gastarbeiter, Ausländer? Hatten sich nicht die RAF-Terroristen in den anonymen Fluren versteckt? Asozialenviertel, der Begriff tauchte nun öfter auf, nicht nur in der Bild. Die Demonstrativbauviertel erhielten dann schnell Spitznamen, die man mit Ehrfurcht aussprach, wenn wieder was passiert war.
Die Autoren Florian Thalhofer und Kolja Mensing zogen letztes Jahr für vier Sommerwochen in eines der Hochhäuser in Bremen-Nord, in den 13. Stock der Grohner Düne. Sie hatten wenig Möbel, aber viel Technik dabei, Notebooks und Videoequipment. Sie kannten keinen. Das wäre bei normalen Bewohnern vielleicht Jahre so geblieben. Die beiden Berliner aber wollten rausfinden, was die Menschen hier täglich erleben, was ihre ganz persönliche Geschichte ist. Sie klingelten also an verschlossenen Türen, stellten sich und ihr Projekt vor und erhielten bei einigen Einlass: Bei Frau Witt, die täglich zwei der Treppenhäuser sauber hält und von den Zeugen Jehovas zum Bibelstudium gebracht wurde. Oder bei den Berishas, die in „der Düne“ als Zigeuner gelten. Sie kamen aus dem Kosovo und wurden am ersten Tag auf dem Weg zum Penny-Markt gefragt: Bist du Albaner? Was willst du hier?
Ein anderer Bewohner, der hier lange mit seiner Mutter lebte, blieb einfach in der leer erscheinenden Wohnung nach ihrem Tod. Die Sozialbehörde stuft ihn als Psychotiker ein, nicht arbeitsfähig. Er hat Angst. Es gibt hier viele Gangs, sagt er. Er macht Aikido, fährt dafür einmal die Woche in die weit entfernte Stadtmitte.
Mensing und Thalhofer haben die Geschichten der Grohner zu einem Videofilm gemacht. Bei den meisten wäre es ein sauber geschnittener, mit Förderung vielleicht in die Kinos gebrachter Dokumentarfilm gewesen. Die beiden aber hatten eine bessere Idee. Florian Thalhofer, nebenbei Computernerd, erfand das Korsakow-System. Mit dem Programm ließ sich eine DVD produzieren, die interaktiv funktioniert. Während einer erzählt, wie es so in der Gang zugeht und wie man die Dealer und Junkies aus den Kellern vertrieb, sind in der unteren Bildschirmhälfte drei andere Geschichten anklickbar. Unter dem Titel „220 KG“ hören wir den Verkehrsfunk und eine Kurzgeschichte über den Crash eines Motorrads in der Tiefgarage. Die kleinen Szenen des Alltags, verknüpft mit cooler Musik, bilden zusammen eine sehr spannende, größere Geschichte, die Raum gibt für das eigene Interesse an den Erzählern. Will man beim Betrachten zwischendurch Tee kochen, muss man nichts verpassen, sondern lässt einfach die Songs von Jeans Team, Neoangin oder Wireless Artist laufen.
Das kommt alles sehr unspektakulär rüber. Angenehm frei fühlt man sich bei dieser Art von Geschichtserzählung, dieser Art Dokfilm. Ganz nebenbei dürfte im Korsakow-System die Möglichkeit der Zukunft liegen, audiovisuell zu erzählen. Ein ganz anderes Demonstrativbauvorhaben, wahrscheinlich mit besseren Aussichten.
ANDREAS BECKER
„13ter Stock“. Interaktive DVD von Florian Thalhofer und Kolja Mensing, im Verbrecher Verlag Berlin