: Biss in die Medaille
SCHLAGLOCH VON ILIJA TROJANOW Erinnerungen an Olympia verdunsten auch, der Rest aber ist stinkende Lache
■ ist Schriftsteller und Weltensammler. Zuletzt veröffentlichte er den Roman „Eistau“ (Hanser 2011). Trojanow erzählt hier von einem Mann, der auszog, die Gletscher zu retten.
Leider war ich während der Olympischen Spiele in London nicht dran mit dem Schlagloch; ich musste mich im Stillen ärgern. Und nun, da die Schlussfeier schon ganze zehn Tage alt ist, fürchte ich, dass manch einer das Thema als veraltet abtun wird: Was soll denn dieser Schnee von gestern? Nicht ganz zu Unrecht, ist doch die Olympiade nichts anderes als ein äußerst aufwendiger und extrem profitabler (für einige wenige) Schneemann, der neben den viel beschworenen „unvergesslichen Erinnerungen“ vor allem eine Lache hinterlässt, die mal stinkt, mal unauffällig verdunstet.
„Inspire a generation“ lautete der diesjährige Werbespruch des IOC. Also versuchte ich mich inspirieren zu lassen, im Fitnessstudio auf dem Fahrrad sitzend, von den vergeblichen Versuchen einer Argentinierin und einer Marokkanerin, sich gegenseitig zu ohrfeigen und zu treten. Beide Frauen umhüpften sich in einem atavistisch wirkenden Ritual, das nach einigen endlos lange scheinenden Minuten beendet war, worauf die Marokkanerin – ich habe nicht verstanden, wieso –nach Hause fahren musste.
Wie inspiriere ich mich nur?
Es ist nicht leicht, inspiriert zu werden, wenn die Entscheidung ansteht, ob der hässliche Mann aus Aserbaidschan oder jener aus Turkmenistan ein Kilo mehr unter Geschrei und Verkrümmung in die Höhe wuchten wird. So hochgezüchtet ist dieses Olympia, dass just die Sportart, die von den meisten Menschen auf Erden ausgeübt wird – das Gehen –, als Lachnummer am Rande der Wettkämpfe dahinvegetiert.
Ich strampelte weiter, während die Szenerie sich veränderte und auf einmal Pferde zu sehen waren. Der Sport heißt „Springreiten“ und wird von einigen Warmblütern betrieben, die wahrscheinlich nicht die taz lesen. Saudi-Arabien gewann Bronze, und damit dürfte eine ganze Generation von Ölprinzen inspiriert sein, die besten Züchtungen aus den berühmtesten Gestüten Europas zu kaufen. Hier wollen wir lobend erwähnen, dass die Reitdisziplinen sehr multikulti sind: das Pferd des Schweizer Gewinners ist ein Franzose, der Niederländer dahinter reitet einen Belgier und der drittplatzierte Ire einen Oldenburger, der beste Brite hingegen einen Niederländer, der Mexikaner einen Holsteiner.
Merkwürdigerweise wird bei diesem Sport kein Unterschied zwischen männlich und weiblich gemacht – bei den Pferden wohlverstanden. Sind denn Stuten und Hengste gleich sprungstark?
Anders gelagert ist die nationalistische Frage bei einigen Laufdisziplinen. Junge Männer namens Kiplagat und Kiprotich (die aus einem kleinen Gebiet um die kenianische Stadt Eldoret herum stammen) gehen inzwischen für ein halbes Dutzend Länder an den Start. Der Tag kann nicht weit sein, da werden nur noch Kenianer teilnehmen, gewandet in den Landesfarben derjenigen Länder, die ihre Dienste auf einem eBay der Leichtathletik erstanden haben.
Gerade vier Jahre vergeudet
Und da wir vorhin die Kommentatoren erwähnten, so sollte zukünftig unbedingt auch deren Leistung ausgezeichnet werden, etwa in den Disziplinen „misslungenster Witz“, „dämlichste Metapher“, „gröbster grammatikalischer Schnitzer“ oder „dümmste Frage, die man einem Menschen stellen kann, dem gerade dämmert, dass er vier Jahre seines Lebens vergeudet hat“. Die internationale Konkurrenz ist übrigens stark, wie ich mich zu Hause über Livestream überzeugen konnte, zumindest in den mir geläufigen Sprachen. Wolf-Dieter Poschmann wird sich arg anstrengen müssen, will er in die Medaille beißen und mit Tränen in den Augen auf dem Siegerpodest zur Hymne erstarren, so wie das alle Medaillengewinner tun – offensichtlich muss der moderne Athlet militärischen Gehorsam an den Tag legen, will er staatliche Förderung und Werbeverträge nicht gefährden.
Das Schlimmste aber an Olympia – abgesehen von der fast totalitären Macht der Sponsoren und den mafiösen Strukturen des IOC – ist die pathologische Gewinnsucht. Athleten, Funktionäre und Kommentatoren können den Hals nicht voll kriegen. Held der Spiele ist ein Mann, der in seiner Karriere mehr Medaillen gewonnen hat als der gesamte afrikanische Kontinent bei dieser Olympiade, ein Schwimmer, der seit der Kindheit nichts anderes tut als zu schwimmen, wie sein Trainer im Interview berichtet. Selbst zu Weihnachten und an seinem Geburtstag habe er trainiert, berichtet dieser voller Bewunderung, während der ungeneigte Zuschauer traurig den Kopf schüttelt und sich denkt: Was für ein Langweiler! Einmal wurde er mit einer Wasserpfeife fotografiert, seine Chance, ein Zeichen zu setzen, das mehr bedeutet als vergängliche Bahnrekorde, aber Herr Phelps ruderte gleich zurück, gab seinen „Fehler“ zu und entschuldigte sich, bevor er wieder ins Wasser stieg und weiterschwamm, einer weiteren und weiteren Medaille entgegen.
Der verlogenste Satz überhaupt
Bei den Indianern vom Volk der Lakota gilt es als verwerflich, dreimal hintereinander zu gewinnen. Das mag uns merkwürdig vorkommen, ist aber von einer bestechenden und einleuchtenden sozialen Logik. Wenn gewinnen ein positiver Wert ist, dann sollte er möglichst breit gestreut werden. Wenn gewinnen die Athleten und ihre Fans beglückt, dann sollten möglichst viele diese Freude erfahren. Wer immer wieder nach Siegen giert, der ist tief im Inneren ein asozialer Mensch, so die Überzeugung der Indianer. Diese ist zivilisatorisch derart hochstehend, dass wir von den Niederungen unseres Leistungswahns aus nur verwundert nach oben schauen können. Selten wird ein anderer, ein wahrhaft inspirierender Geist sichtbar, etwa wenn die Siebenkämpferinnen und Zehnkämpfer alle miteinander das Ende eines auslaugenden zweitägigen Wettkampfs feiern. Wie wunderbar wäre es, wenn Usain Bolt, anstatt einsame Sperenzchen vorzuführen, mit Timi Garstang von den Marshallinseln, der im Vorlauf über 100 Meter mit 12,81 Sekunden ausschied, eine Ehrenrunde drehen würde, um dem verlogensten aller Sätze – „Dabei sein ist alles“ – endlich einmal wieder etwas Geltung zu verleihen.