: „Bin ich, wenn ich tot bin, noch bei Sinnen?“
ÜBERZEICHNUNG Marie Marcks begleitete die deutsche Frauenbewegung mit ihren Karikaturen – nun wird sie neunzig. Ein Gespräch über Humor, Ernst und die Wahrheit, die sich aus der Umdrehung der Welt ergibt
■ Geburtstag: An diesem Samstag, dem 25. August, wird Marie Marcks neunzig Jahre alt. Geboren wurde sie 1922 in Berlin, den größten Teil ihres Lebens verbringt sie in Heidelberg in turbulenten Familienverhältnissen.
■ Werk: Noch bis zum 21. Oktober ist im Caricatura Museum in Frankfurt/Main, am Weckmarkt 17, eine Marie-Marcks-Ausstellung zu sehen. Karikaturen zu den Themen, die sie Jahrzehnte lang beschäftigten – wie Rüstung, Bildung, Emanzipation – werden gezeigt.
INTERVIEW WALTRAUD SCHWAB
In einer ehemals verwunschenen Scheune im Heidelberger Stadtteil Handschuhsheim, einer Scheune, die längst wie eine Wabe ausgebaut wurde, hier ein Zimmer, da ein Zimmer, dort noch eins, lebt Marie Marcks seit über fünfzig Jahren. Wein umrankt die Hausfassade. Marie Marcks verbringt ihre Tage meist im ersten Stock in ihrem Atelier – lichtdurchflutet, über und über voller Bilder, Skizzen, Karikaturen, Bücher, Regale, Tische. Darunter auch ein Tisch, der einst dem Maler Emil Orlik gehörte. Mühsam und bucklig bewegt sich Marie Marcks, deren Knochen durch Osteoporose weich geworden sind, mit ihrem Rollator zwischen all diesen Dingen.
sonntaz: Frau Marcks, Sie werden neunzig und wollen nichts zum Alter gefragt werden.
Marie Marcks: Das ist ja auch weiß Gott nichts Erfreuliches. Ich will nicht nach dem gefragt werden, was mich langweilt, bedrückt und behindert. Sie sehen ja, überall brauche ich den Rollator. Meinen Sie, das ist ein Vergnügen. Keine Frage, der Rollator ist eine gute Erfindung, aber ich bin auf diese Weise ununterbrochen nervös, weil mir das mit dem Rollator einfach zu langsam geht.
Es fällt Ihnen also auch nichts Bissiges ein zum Alter?
Sie halten einfach am Thema fest, weil Sie das auf Ihrer Agenda haben. Wie stellen Sie sich das Alter denn vor? Meine Spaziergänge sind immer dieselben. Immer die Straße lang. Da kenne ich jeden Stein. Dauernd muss ich Angst haben, wenn ein Lastauto kommt. Es gibt einen Spruch: „Alt werden ist nichts für Feiglinge.“ Schön gesagt. Ich will ja nicht gleich sterben, aber ich hatte es mir anders vorgestellt. Natürlich soll ich nicht undankbar sein. Ich habe es gut, ich kann hier leben, ich werde jetzt gefeiert. Viele, die so alt werden wie ich, werden nicht gefeiert.
Sie sind Karikaturistin, geschätzte zwei- bis dreitausend Bilder haben Sie gezeichnet und gemalt.
Vielleicht auch mehr.
Wie machen Sie das, dass Sie in einer kleinen Zeichnung Welterfahrung so umdrehen, dass man darüber lachen kann?
Viele lachen ja gar nicht darüber. Hier, gucken Sie diese Zeichnung. Die habe ich am Tage der Wiedervereinigung gemacht. Das Brandenburger Tor – und die tragenden Säulen sind übereinandergestapelte Frauen, die schuften, putzen, Sekretärin sind, an denen Kinder hängen. Die Pferde der Quadriga sind auch Frauen. Und wenn Sie mich fragen, wie etwas lustig wird, selbst wenn es gar nicht lustig ist oder nur ein schmutziger Witz oder ein böser ist, ja, man kann etwas halt umfunktionieren. Hier sind Frauen dem Reiterwagen des siegreichen Feldherrn vorgespannt. Das ist böse.
Wie sind Sie denn da drauf gekommen?
Weil es hieß, Frauen sind die Verliererinnen der deutschen Einheit. Weil sie schnell wieder in ihre traditionellen Pflichten – Haushalt, Kinder – reingefädelt wurden. Ich kann Ihnen noch und nöcher Sachen zeigen und Ihnen sagen, wie ich auf die Ideen gekommen bin, aber warum die Ideen wirken, das weiß ich nicht. Zum Beispiel eine Karikatur aus den frühen sechziger Jahren, als sich allmählich durchsetzte, dass die friedliche Nutzung der Atomtechnik doch nicht so friedlich ist, da habe ich ein Baby gezeichnet, das aus einer Babyflasche trinkt, aber die Flasche ist gar keine Flasche, sondern eine Bombe. Das ist doch auch so eine Umfunktionierung.
Davon nährt sich eine Karikatur, dass man überzeichnet?
Natürlich. Oder dass man etwas umdreht. Hier diese Zeichnung mit dem nicht so schönen Mann, der von einer Frau ausgezogen wird und mit runtergelassenen Hosen vor ihr steht. „Weißt du, dass du schön bist?“, sagt die Frau. Viel öfter ziehen doch die Männer die Frauen aus und sagen das zu den Frauen, aber wenn man es umdreht, steht dieser Satz auch nackt da, nicht nur die ausgezogene Person.
Humor ist also gar nicht das Gegenteil von Ernst, sondern ist ernsterer Ernst?
Manchmal gucke ich mir alte Karikaturen an und finde, dass sie viel vieldeutiger sind, als ich beabsichtigt hatte. Aber Umkehrung oder Umfunktionierung funktioniert auch nicht immer. Diese Karikatur, wo eine Frau anfängt zu gehen, und man merkt, dass sie erst ihre Wurzeln, die sie in der Erde festhalten, rausreißen muss, das haben viele Männer gar nicht verstanden. Aber diese Frau, die da gezeichnet ist, das war ja auch ich.
Sie meinen, eine Frau mit fünf Kindern wie Sie …
… Die Frau ist irdisch, und der Mann schwebt oben drüber, ist geistig.
Sie haben erlebt, wie Frauen, die an der Heimatfront im Krieg alles gemeistert haben, im Wirtschaftswunder wieder auf ihre Kinder-Küchen-Rolle reduziert wurden.
Ja, das sowieso. Aber heute ist es doch auch nicht besser. Gucken Sie ins Fernsehen. Da sind Männer bis zum Anschlag, und dann ist da eine mickrige Frau dabei. Die hat dann ein blaues Kleid an oder besser ein rotes Kleid an, damit man sie auch sieht, und dann ist das vielleicht die Sekretärin. Gut, man kann es nicht verallgemeinern. In der Literatur gibt es jetzt viele Frauen, die schreiben auch Bestseller. Aber schon in der bildenden Kunst ist das keineswegs der Fall. Natürlich ist es besser geworden, zumindest in unseren Breiten, aber die Männerriege regiert immer noch die Welt. Oder etwa nicht? Was sehe ich kürzlich: zwei Frauen in der Burka, die vor meinem Fenster vorbeigehen, eingewickelt bis auf die Augen. Bis zu denen reicht unsere Veränderung nicht.
Die Themen Ihrer Karikaturen beschäftigen sich viel mit dem Geschlechterverhältnis, und oft gibt es einen biografischen Bezug.
Meine jüngste Tochter, die ist jetzt auch über fünfzig, aber die war auch mal ein Kind, und da kam sie an mein Bett und sagte, Mama, ich hatte einen schrecklichen Traum, ich habe geträumt, du wärst entlaufen. Das habe ich natürlich gleich aufgegriffen und eine Karikatur gemacht: „Graugestreifte Mutter entlaufen. Abzugeben bei Dr. Pingel, Mozartstraße 4“. Das war natürlich ein Geschenk des Kindes.
Offen sein für die Nuancen des Alltags, dann kommen die Ideen, meinen Sie das?
Natürlich regen einen die Kinder an. Oder man spricht mit Leuten. Eine Nachbarin hat sich, da war sie auch schon ’ne alte Frau, noch mal verliebt. Alter schützt ja vor Liebe nicht. Ich traf sie auf der Straße und fragte, „Warum siehste denn so mickrig aus?“ – „Weißte, was Karl gesagt hat?“ – „Nee, weiß ich nicht.“ – „Keine Frau welkt so schön wie du.“ Das können Sie sich nicht ausdenken. Das ist O-Ton. Kein Wunder sah sie schlecht aus. Ich würde das ja nicht weitererzählen, wenn mir das von meinem Angebeteten verpasst würde. Ich habe mir das aber natürlich sofort gemerkt.
Sie haben es in Ihren Zeichnungen aber auch oft so gemacht, dass Sie Frauen die Wörter der Männer in den Mund gelegt haben.
Ja, dass sich die Männer auch mal vorstellen können, dass es anders ginge.
Ist das eigentlich was Schichtspezifisches, Ihr freches Persiflieren der Realität?
Ich hatte das Glück, aus einer künstlerischen Familie zu kommen. Meine Mutter hatte bei uns zu Hause im Wohnzimmer eine private Kunstschule. Mein Vater, der Architekt, konnte auch alles aus der Lamäng zeichnen. Ich habe das halt so nebenbei gelernt. Mein Onkel war der Bildhauer Gerhard Marcks. Der hatte Berufsverbot bei den Nazis. Soll „entartet“ gewesen sein. Aber er hat auf seinem Bauernhof in Mecklenburg doch weitergearbeitet. Seine Frau hat ihm ganz traditionell den Rücken freigehalten. „Vater muss arbeiten.“ – „Vater schläft.“
Haben Sie Ihren Männern auch den Rücken freigehalten?
Sehr widerwillig. Aber ich habe mitunter das Geld verdient. Ich habe aber gelernt, von allein geht gar nichts. Als die Weltausstellung in Brüssel im Anmarsch war, meine erster richtig großer Auftrag, habe ich so lange rumtelefoniert, bis ich jemanden fand, der Kontakt hatte. Man muss sich dahinterklemmen. „Für nüscht is nüscht“, wie man auf Berlinerisch sagt. Man muss was leisten, es sich zutrauen und sich auch drum kümmern, dass man es kriegt.
Sie mussten das tun, obwohl Sie auch Wissenschaftlersgattin waren.
Wie langweilig.
Macht das Ihr Wesen aus, dass Sie sich immer auch das Gegenteil von dem dachten, was ist?
Ja manchmal war ich Opposition um der Opposition willen. Es hatte oft keinen Sinn, aber ich dachte es anders.
Sie sind 1922 geboren und haben komplett das nationalsozialistische Erziehungs- und Bildungsprogramm durchlaufen.
Dagegen gab es – ich will jetzt nicht Widerstand sagen – aber die kritische Position meiner Eltern.
Draußen sind Sie auf Linie gebracht worden, und in der Wohnung sind Sie auf Gegenlinie gehalten worden?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich sehr wohl beeinflussbar bin. Ich kann nur Beispiele sagen. Als Berlin schon weitgehend in Schutt und Asche lag, aber noch nicht in der Landhausstraße 13, betete mein Vater jeden Abend. „Komm, Herr Hitler, sei unser Gast und sieh, was du angerichtet hast.“ Ich weiß noch, dass ich zu ihm gesagt habe, „dann geh doch in den Widerstand“. Ich wusste, dass es einen Widerstand gab, aber wie kommt man da rein? Das war ja die zweite Frage. Mein Vater lächelte nur wissend. Wenn ich damals Kinder gehabt hätte, und die hätten das zu mir gesagt, ich hätte auch nur wissend gelächelt.
Sind Sie mit Ihrem Widerspruchsgeist auch öffentlich geworden?
Ja, zum Beispiel bin ich mal abgehauen, als ich zum Freiwilligendienst hätte vereidigt werden sollen. Fahne hoch und dann ein Eid auf ein weiteres Jahr nach dem Arbeitsdienst. Ohne mich, dachte ich. Ich bin abgehauen, aber nicht weg, sondern auf den Speicher und habe von oben in den Hof geguckt. Jetzt vereidigt euch ohne mich. Eine entdeckte mich: „Da oben ist die Marie.“ Zwei Führerinnen kamen hoch, Heil Hitler und so. „Du kommst sofort runter!“ Ich bin nicht runter. Ich merkte, ich habe Oberwasser. Die hatten Angst. Sie sind runter, haben ohne mich vereidigt, und es ist nichts passiert. Niemand hat mich verpfiffen. Sie waren Nazi-Führerinnen, aber sie waren keine Petzerinnen. So gibt es ein paar Erlebnisse, aber ich hatte immer Glück.
Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass die Nazi-Bildung spurlos an Ihnen vorbeigegangen ist.
Ist es natürlich nicht. Seit ich 15 war, habe ich Tagebuch geschrieben. Da gibt es eine Stelle, wo steht, dass ich stolz bin, eine Deutsche zu sein, weil wir wieder soundso viele Bruttoregistertonnen versenkt hätten. Ich hatte keine Ahnung, was das ist, aber ich wusste, wir hatten irgendwas besiegt.
Ihr erstes Kind haben Sie unehelich im Krieg bekommen.
Ich war verliebt, und dann ist es halt passiert. Dann flog ich zuerst aus dem Elternhaus raus, weil meine Eltern ja noch voriges Jahrhundert waren. Was nicht bedeutet, dass meine Eltern das Kind nicht geliebt haben, als es auf der Welt war.
Aber erst mal ein Drama.
Meine Mutter wollte unbedingt, dass ich den Mann heirate. Ich wollte das nicht. Dachte, wenn ich den heirate, dann kriege ich ja acht, neun, zehn Kinder. Nein. So lieben tat ich ihn auch nicht. Und dann ging sie mit mir zum Standesamt. Sie ging voran, und ich latschte hinterher. Plötzlich blieb sie stehen und fragte: „Wollen wir ausrücken?“ Gesagt, getan. Wäre meine Mutter anders gewesen, hätte ich geheiratet. Sie hat diese Heldentat vollbracht. Das war ja keine Selbstverständlichkeit damals.
Rausgekommen ist schon eine ungewöhnliche Biografie: fünf Kinder von drei verschiedenen Männern, eins unehelich, Geld verdienend, mit Karikaturen zum Nachdenken anregend, alleinerziehend waren Sie nach der Scheidung auch.
Ja, und ich habe das nicht in positiver Erinnerung. Haben Sie mal Kinder, die altersmäßig auch noch so weit auseinanderliegen. Kleine Kinder und aufsässige Pubertierende – wenn man da allein mit fertig werden muss. Und der Vater behindert einen sogar, weil er als Sonntagspapa natürlich nur schöne Sachen mit den Kindern macht, wenn er sie mal abholt.
Sie haben in Ihren Arbeiten deutlich gemacht, das Private ist politisch, und das Politische ist privat. Das Große immer runterbrechen auf den Alltag, ist das Ihr Erfolgsrezept?
Das war aber auch eine Losung damals. Aber ich war in keiner Bewegung. Ich habe meine Frauenbewegung allein gemacht. Ich habe einfach nur thematisiert, dass die Frauen die Welt mit anderen Augen sehen, und das war das Neue. Aber die Frauenbewegung hat mir insofern genützt, dass sie mich immer schwarz nachgedruckt haben, so bin ich bekannt geworden.
War die Geschlechterungerechtigkeit für Sie das wichtigste Thema, das Sie zeichnerisch beackerten?
Ich habe in meinen vielen, vielen Bücher und in der Süddeutschen Zeitung auch anderes thematisiert. Die Umweltfrage, Wiederaufrüstung, Neonazismus, die Friedensbewegung. Schade, dass so selten danach gefragt wird. Anfangs zeichnete ich gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands an. Eine Frau mit Kindern hat ein ganz anderes Verhältnis zur Rüstung als Männer. Männer wollen knallen und siegen. Eine Frau weiß genau, die Jungs werden Soldaten, die müssen schießen und die Atombombe, und alles stürmt auf einen ein.
Sie waren mit einem Atomforscher verheiratet.
Aber er hat aufgeklärt. Ich habe seine Bücher mit Karikaturen illustriert. Er hat meine Kritik zugelassen, weil es auch seine war. Frieden, Umwelt, keine Aufrüstung, das war mir wichtig.
Was bleibt von alldem mit neunzig?
Also, ich sag mal, ich habe mir mein Alter anders vorgestellt, nicht, dass ich meine Arbeiten zähle. Ich tue jetzt seit Jahren nichts anderes, als mein sogenanntes Werk zu nummerieren und zu katalogisieren. Das ist natürlich langweilig. Manchmal ist es interessant, weil man etwas entdeckt, was man vergessen hat. Aber es ist ohne Ende.
Warum tun Sie das? Sie könnten doch auch denken: nach mir die Sintflut?
Dazu ist mir mein Werk zu wichtig. Und es ist auch ein Kind von mir. Ich will nicht, wenn ich tot bin, dass es heißt: April, April, war alles gar nicht. Ich habe schon den Ehrgeiz, den Wunsch, wie heißt es in dem Gedicht: „Lass die Spur von meinen Erdentagen / Nicht in Äonen untergehen“ oder so ähnlich. Von Goethe oder der Sorte ist das. Das möchte man nicht, dass man einfach untergeht und weg ist.
Sie wollen Spuren hinterlassen?
Natürlich habe ich auch schlechte Spuren, und ich bin auch unausstehlich, wenn ich fluche, und dann krieg ich auch hin und wieder mit meinen Kindern Krach, aber letztendlich: „Es kann die Spur von meinen Erdentagen / Nicht in Äonen untergehen“. Von Schiller oder Goethe, meistens ist’s einer von beiden.
Sie sind gezwungen, über den Tod nachzudenken?
Natürlich. Und ich frage mich immer, bin ich, wenn ich tot bin, noch bei Sinnen?
■ Waltraud Schwab, sonntaz-Redakteurin, besaß auch einmal ein schwarz gedrucktes Buch von Marie Marcks