: Überleben im Tafelsilber
Die internationale Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ hat in Münster ein Flüchtlingcamp mitten in die teure Flaniermeile gestellt. Dort kritisieren sie auch das Fehlen effektiver Medikamente
AUS MÜNSTERRALF GÖTZE
Am Prinzipalmarkt in Münster steht inmitten von Geschäften mit feinsten Tafelsilber, edlen Stoffen und teuren Gaumenfreuden ein Flüchtlingscamp. Die internationale Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ demonstriert mit ihrem kleinen Lager an der Lambertikirche ihren Einsatz in Regionen, wo es nicht um Tafelsilber, Stoffe oder irgendwelche Köstlichkeiten geht, sondern schlicht um das Überleben.
„35 Millionen Menschen befinden sich zurzeit auf der Flucht“, sagt die Mitarbeiterin Heidi Anguria. Dabei würden lediglich zwölf Millionen offiziell als Flüchtlinge gelten, da sie Opfer zwischenstaatlicher Konflikte sind. Die 23,6 Millionen Leidtragenden von innerstaatlichen Konflikten wie Bürgerkriegen gelten beim UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) lediglich als „Vertriebene“ und haben daher eigentlich keinen Anspruch auf Unterstützung. „Uns ist der Begriff Flüchtling oder Vertriebener egal“, erklärt Anguria – im Camp werde jede Familie angenommen.
Schritt für Schritt zeigt die Kinderkrankenschwester in der Friedensstadt Schulklassen und Besuchergruppen, wie die Hilfsorganisation menschliche Bedürfnisse abgedeckt: Zuerst werde den Flüchtlingen eine Unterkunft zugewiesen. Die ausgestellten Zelttypen sehen modern und geräumig aus. Erst als sie erzählt, wieviele Personen es sich teilen müssen, fangen einige Besucher an zu schlucken. Sechs Menschen auf zwölf Quadratmeter: einigen ist das schon beim Probesitzen zu wenig – an einen erholsamen Schlaf ist da nicht zu denken. Doch die größte Herausforderung sei die Hygiene, sagt die Krisenhelferin. Die Infrastruktur für Trinkwasser und Latrinen müsse immer schnell ausgebaut werden, sonst erwarte die Flüchtlinge nach der Kriegs- die Seuchenbedrohung. Ein einfaches Beispiel: Während der Durchschnittsdeutsche täglich 130 Liter Wasser zum Waschen, Spülen und Trinken verbraucht, müssen die Flüchtlinge anfangs mit fünf aufbereiteten Litern Wasser pro Tag auskommen.
Ohne die eigentliche Grundversorgung mit Unterkunft, sauberen Trinkwasser, Nahrungsmitteln und sanitären Einrichtungen sei die namensgebende medizinische Arbeit der „Ärzte ohne Grenzen“ überflüssig, erklärt Anguria der Besuchergruppe weiter. Bei den fünf meisten Todesarten: Unterernährung, Malaria, Cholera, Atemwegserkrankungen und Masern ließen sich mit relativ geringen Aufwand bereits große Erfolge erzielen. Allein bei Cholera, die dem Körper täglich zehn Liter Wasser durch Durchfall raubt, kann die Sterblichkeit durch Infusionen von 40 Prozent auf unter ein Prozent gesenkt werden.
„Bei vielen anderen Tropenkrankheiten fehlen uns allerdings effektive Medikamente“, kritisiert Anguria die Pharma-Industrie. Mit Potenzpräparaten liesse sich eben mehr verdienen, als mit einem neuen Tuberkulose-Wirkstoff.