: Misstrauen gegen eigenen Geheimdienst
AFFÄRE Thüringen schickt Aktenberge nach Berlin – aus Angst, eigene Leute könnten Teile verschwinden lassen
NSU-AUSSCHUSS-MITGLIED
VON WOLF SCHMIDT
BERLIN taz | Abenteuerlich. Anders kann man es nicht bezeichnen, was sich beim Streit um die Lieferung Hunderttausender ungeschwärzter Seiten an Geheimakten von Thüringen nach Berlin gerade abspielt.
Am Mittwoch rief nach taz-Informationen der Thüringer Innenminister Jörg Geibert (CDU) den Vorsitzenden des NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags an, Sebastian Edathy (SPD). Der hatte sich am Morgen im Radio über die kaum zu bewältigende Menge beschwert. Transparenz sei ja schön, aber es könne nicht sein, dass man jetzt „einfach den Keller leer geräumt hat in Erfurt und uns 1.500 Aktenordner schickt“. Landesinnenminister Geibert griff daraufhin gegen 13.30 Uhr zum Hörer und erklärte Edathy den Grund, warum er nun Berge an ungeschwärzten Geheimakten des Verfassungsschutzes über die rechtsextreme Szene nach Berlin karren ließ – und der klingt schier unglaublich.
Laut einem Gesprächsvermerk Edathys hat Geibert sich Sorgen gemacht, dass „interessante Bestandteile“ dieser Akten hätten „verschwinden“ können, wenn Mitarbeiter seines eigenen Landesamts für Verfassungsschutz eine Vorauswahl getroffen hätten. Das Kopieren der umfangreichen Akten, so Geibert, habe er nicht Verfassungsschutzmitarbeitern überlassen – sondern er beauftragte 80 Bereitschaftspolizisten damit.
Im Klartext: Der Innenminister eines Bundeslandes traut offenbar seinen eigenen Leuten nicht mehr über den Weg – in dem Telefongespräch fiel laut dem Gesprächsvermerk sogar der Begriff „Sumpf“. Im NSU-Untersuchungsausschuss hieß es am Donnerstag: „Thüringen rückt immer mehr in die Nähe eines Failed State.“
In den Sicherheitsbehörden herrscht schon seit Tagen große Aufregung über die Lieferung der Akten aus Thüringen. Denn die enthalten auch zahlreiche sensible Informationen über die Verfassungsschutzämter anderer Länder sowie des Bunds.
Gerieten diese an die Öffentlichkeit, so fürchten Geheimdienstler, könnten die Namen von V-Mann-Führern bekannt werden, auch die von diesen betreuten Spitzel in der Neonaziszene auffliegen – weshalb mehrere Länder in letzter Minute sogar versuchen wollten, die Transporter mit den Akten auf dem Weg nach Berlin zu stoppen. Doch da waren schon 778 Ordner im Bundestag angekommen, der wegen der Aktenberge extra die Geheimschutzstelle umbauen lassen musste.
Thüringen selbst hat sein Vorgehen in den vergangenen Tagen mehrfach gerechtfertigt und mit der Dimension der NSU-Verbrechen begründet. Nun erscheint die Aktenlieferung noch mal in einem anderen Licht: Als verzweifelter Akt eines Landesinnenministers, Beweise zu sichern – bevor sie womöglich der Vertuschung zum Opfer fallen.
Von einem „Hilfeschrei aus dem Osten“ sprach am Donnerstag der FDP-Obmann im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags, Hartfrid Wolff. „Thüringen will mit der Vergangenheit seines Landesamts für Verfassungsschutz aufräumen und umfassend zur Aufklärung beitragen, sieht sich selbst aber nicht in der Lage, dies zu tun.“
Nun haben die Abgeordneten in Berlin das Problem an der Backe: Sie stehen vor einem kaum noch zu bewältigenden Aktenberg. Etwas mehr Schlaf wäre mal wieder schön, stöhnte neulich einer von ihnen. Daraus wird so schnell nichts.
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