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Archiv-Artikel

Der New-Orleans-Effekt

Der Hurrikan „Katrina“ zeigt, dass der Klimawandel längst schon da ist. Seine Wirkung wird trotzdem noch immer nicht wahrgenommen, seine ersten Opfer sind die Armen

Alle Menschen dieser Welt wollen leben können wie Gott in New Orleans, und das mit gutem Recht

New Orleans ist schon jetzt zu einem Symbol geworden: Nie in der Menschheitsgeschichte war eine Naturkatastrophe in allen Details so genau vorhergesagt worden. Und trotzdem hatte diese Vorhersage keine Konsequenzen. Als habe der Mensch die Kraft verloren, seine eigenen Fehler zu korrigieren: Ergeben rauschte er in New Orleans offenen Auges ins Desaster.

Der Klimawandel zum Beispiel ist, genau genommen, schon längst da. Selbst wenn die Welt sofort 90 Prozent weniger Treibhausgas ausstoßen würde – jenes Kohlendioxid, dass wir in den letzten fünfzehn Jahren in die Atmosphäre geblasen haben, ist dort noch gar nicht angekommen, wo es Schaden verursacht. Würde die Welt also sofort vernünftig werden – das Klima änderte sich 15 weitere Jahre lang und radikalisierte so das Wetter. Und mit Verlaub: Derlei menschliche Vernunft ist nicht in Sicht.

Genau wie in New Orleans. Hydrologen, Studien, Computermodelle, Bauingenieure, Universitäten warnten jahrelang vor exakt dem Szenario, das jetzt eingetroffen ist. Aus dem Mississippi wurde eine Schiffsautobahn, die Folgen sind verheerend. Weil ein begradigter Fluss viel schneller fließt, gehen dem Delta die Sedimente aus. Das natürliche Gleichgewicht wurde so gestört, die Stadt begann zu sinken – ein Zentimeter pro Jahr, und das seit über hundert Jahren. Die Deiche zum Lake Pontchartrain, dem See neben New Orleans: Weder Grund- noch Regenwasser konnten auf natürlichen Wegen ablaufen. Die Stadt wurde zur Schüssel. Das aufgewärmte Meer: Zu ihrer Geburt brauchen Hurrikane mindestens eine Oberflächentemperatur von 26 Grad. Auf wesentlich größerer Fläche können wesentlich häufiger wesentlich heftigere Hurrikane entstehen.

Simulationen, Experten, Computermodelle – trotz der Szenarien haben sich Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit jahrelang auf all das gestürzt, was das Vorbeiziehen der Unwetter glauben machen darf. Irrt die Wissenschaft? Hält der Damm? Verschont dieser Hurrikan die Stadt dieses Mal noch? Das Küken starrte so lange auf die Schlange, bis es gefressen wurde.

Im Gewächshaus steigt die Temperatur, solange die Sonne es bescheint – das nennt man Treibhauseffekt. Wir sitzen im Glashaus: Ein Drittel der Sonnenenergie, die uns erreicht, wird durch Wolken, Schnee und Eis von der Erde ins Weltall wieder zurückgestrahlt. Massenhaftes Kohlendioxid in der Troposphäre wirkt jedoch wie eine Gasglocke – es hält die Energie zurück. Und heizt die Atmosphäre auf. Jahrtausende ging das ganz gut: Ohne Treibhauseffekt wäre die Erde heute bitterkalt. Seit Beginn der Industrialisierung wurde das aber zu viel: Wirtschaftswachstum heißt wachsender Energieverbrauch, Energieverbrauch heißt Kohlendioxid-Emission, die wiederum zur himmlischen Verstopfung führt: Die Glocke aus CO2-Molekülen wird dichter.

Obwohl dieser Effekt als Ursache des Klimawandels in der Wissenschafter längst Common Sense ist, akzeptiert die Öffentlichkeit den Zweifel. Ja, sie lechzt förmlich nach ihm. Statt Klimaschutz zu fordern, verlangt der deutsche Boulevard billigeren Sprit. Statt über ein neues Kioto-Protokoll zu debattieren, streitet die Politik über den besten Hochwasserschutz. Nicht der steigende Kohlendioxidausstoß erregt die Wirtschaft, sondern der sinkende Aktienindex.

Erstmals hat der US-amerikanische Klimaforscher James E. Hansen in den Achtzigerjahren die globale Erwärmung als Bedrohung definiert. Statt dem Nobelpreis bekam er Prügel. Genüsslich rechnet etwa Michael Crichton in seinem Anti-Umweltschutz-Roman „Welt in Angst“ das Irren von James Hansen vor: Nicht wie prognostiziert 1 Grad ist die Erde heute wärmer, sondern gerade mal um lediglich 0,11 Grad.

Es gibt Trendskeptiker, Ursachenskeptiker, Folgenskeptiker, Instrumentenskeptiker ebenso wie Szenariendramatiker, Grundsatzmahner, Untergangsbeschwörer. Tatsächlich geht es bei der globalen Erderwärmung um einen globalen Informationskrieg. Mit unklaren, stets wechselnden Fronten: Versicherungsindustrie gegen Bundesverband der Industrie, Umweltschützer gegen Umweltminister, Entwicklungshelfer gegen Entwicklungsländer. Klimaschützer sind für Atomkraft, das Pentagon gegen Bush, der Naturschutzbund gegen Windkraft – gerade weil das Streitobjekt deutlich mehr Variablen als ein Steuermodell aufzubieten hat, ist der Weg aus der Gefahr so strittig.

Unstrittig scheint nur eins: Von Europa aus ist der Mississippi weit weg. Genau das ist aber der New-Orleans-Effekt: „Katrina“ entstand just da, wo auch der atlantische Golfstrom geboren wird, jenes gewaltige Strömungssystem, das Europa jährlich so viel Wärme schenkt, wie 250.000 Atomkraftwerke produzieren können. Dichter Nebel in Hamburg oder der Himmel über Berlin: „Katrina“ hat auch uns getroffen. Wir wissen bloß noch nicht genau, wie.

Gewitter im Dezember, 20 Grad im Schatten im März, tödliche Hitzewellen und Überschwemmungen im Sommer. Nennen wir das ab sofort den „New-Orleans-Effekt“: Meteorologen, Studien, Katastrophenschützer, Computermodelle, Universitäten warnen vor Szenarien, die sich immer deutlicher ankündigen – und trotzdem passiert nichts. Nicht 90, sondern 5 Prozent weniger Treibhausgas wird in zehn Jahren in die Atmosphäre geblasen – falls das Kioto-Protokoll eingehalten wird, wonach es derzeit nicht aussieht. Und das auch nur in den Industriestaaten. Weltweit wächst und wächst und wächst aber die Emission: Alle Menschen dieser Welt wollen leben können wie Gott in New Orleans, und das mit gutem Recht. Die UNO will die Armut explizit halbieren. Das wird viel Energie kosten.

Dies ist die wichtigste Erkenntnis, die uns „Katrina“ bescherte: Die ersten Opfer des weltweiten Klimawandels sind die Armen. In Asien, wo die Hurrikane Taifune sind, flohen hunderttausende Chinesen vor „Talim“, der letzte Woche wütete. Bislang starben 95 Menschen – große Aufregung hat das nicht verursacht.

Würde die Welt sofort vernünftig werden – das Klima änderte sich trotzdem 15 Jahre lang weiter

Während für die Opfer von New Orleans jetzt Geld gespendet wird, spitzt sich die Situation andernorts dramatisch zu. Längst hat das teure Erdöl den armen Ländern das Entwicklungshilfegeld aus den Taschen gezogen, das sie eigentlich zur Wasseraufbereitung investieren müssten – statt die Teuerungsrate zu tilgen. Wassertote hier, Trockentote dort – der Klimawandel kommt nicht nur katrinalaut. Sondern auch leise und universell. Jetzt aber erst mal wieder laut: Der nächste Hurrikan macht sich bereit, die US-Küste zu bestürmen. 2005 wird mit bis zu 21 Hurrikanen zum aktivsten Hurrikan-Jahr seit Beginn der Aufzeichnung, sagt die Wetterprognose.

Im Herbst ist wieder Klimakonferenz. Mag ja sein, dass das exakte Ausmaß des Klimawandels noch nicht wissenschaftlich zweifelsfrei belegt werden kann. Alles andere als ein neues, ehrgeiziges Klimaschutz-Programm wäre aber nur ein neuer Beleg – für den New-Orleans-Effekt.

NICK REIMER