ORTSTERMIN: DIE BREMER KUNSTHALLE REMIXT DAS JAHR 1959 : Hundertwassers Linie, neu gezogen
Am Anfang: ein Fleck. Er schwillt zur Tropfengröße, zwängt sich aus einem Wasserhahn und will mehr. Will sogar alles. Wächst sich zur Linie aus, windet sich spiralig in die Unendlichkeit. Vergangenen Mittwoch haben 30 frisch an der Bremer Hochschule für Künste eingeschriebene Studierende der Digitalen Medien damit begonnen, den Farbtropfen aus einem eigens installierten Wasserhahn zu befreien. Auch jetzt, während Sie diesen Text lesen, ziehen sie ihn als Farblinie weiter, der Kassettendecke entgegen.
Inmitten des 100-Quadratmeter-Saals der Großen Galerie der Bremer Kunsthalle stehen ein Rollwagen, beladen mit Rotwein, Himbeergeist und Tiroler Knabbergebäck, und zwei Büchertische. Darauf und dahinter präsentiert sich Ästhetik-Professor Bazon Brock mit überbordend gebildeten Sätzen, locker dahingesprochen, übersichtlich gedruckt. Als DJ legt er mal Gregorianische Gesänge, mal Sitargezirpe in den CD-Player.
„Eine Geburtsstunde“
Klangliche Inspiration, damit in Bremen eine Kunstaktion Ereignis wird, die 1959 an der Hamburger Hochschule für Künste verboten wurde: Damals hatte Brock den dortigen Dozenten Friedensreich Hundertwasser angeregt, eine Linie im Uni-Atelier zu beginnen und bis zur Ausstellung seiner Werke in der Harvestehuder Galerie Brockstedt zu ziehen. „Eine Geburtsstunde der europäischen Aktionskunst“, so Bremens Kunsthallenchef Christoph Grunenberg, die nun als Raum schaffende Performance wiederholt wird.
Eine begehbare 3-D-Spirale soll da entstehen – als finaler Ausstellungssaal der Hundertwasser-Ausstellung „Gegen den Strich“. Die zeigt ab morgen Arbeiten aus der Zeit, als das Ornament noch als Kunstverbrechen galt und Hundertwasser noch nicht der Star der Kitsch- und Kalenderkunst war.
Um jetzt erst einmal ein wenig Leben ins stupide Linienziehen zu bringen, kommen Theaterleute vorbei, Musiker und auch Referenten, das Haus ist bei freiem Eintritt Tag und Nacht geöffnet. So richtig nach Happening fühlt sich das alles nicht an, eher nach echter Maloche: 50 Liter schwarzer und roter Farbe sind zu verarbeiten. Immer hält einer der Studenten die Farbe, einer malt, einer steht mit Papier zum Entklecksen bereit, andere dokumentieren mit Kameras. Oder liegen mal kurz im Ruheraum, um dann wieder über den Boden zu robben oder auf ein Gerüst zu steigen.
Es herrscht Linealverbot
Um die Eingangstür herum soll die Linie fließen. Kontinuierlich muss sie gezogen, der Schaumstoffpinsel also fliegend übergeben werden. Verboten sind rechte Winkel, Kreuzungen und saubere Geraden: Die nannte Hundertwasser einst „wahres Werkzeug des Teufels“. Es herrscht Linealverbot im Saal, regiert die Freiheit, mal kringelig und krakelig Spuren zu hinterlassen. So mäandert die Linie die Wände empor, bekommt hier einen Stups, dort einen Schwung. Jeder Pinselansatz ist zu sehen, die Führung mal wurschtig dick, mal zittrig suchend. Herrlich die gebirgigen Aufwallungen beim Einbiegen in eine Fensternische. Und wie kuschelig sie am Notausgangsschild vorbeischleicht!
Organisches Wachstum und Müdigkeit können sich zum meditativen Prozess vereinen, wie die Beteiligten sagen. DJ Brock spricht gar von „Exerzitien“: malend Teil der entstehenden Spirale werden. Die war für Hundertwasser nicht nur Symbol einer kosmisch-biologischen Mythologie, sondern auch, sagt Grunenberg, eines „des künstlerisch kreativen Akts“.
Der auch morgen nicht endet: Im Lauf der Ausstellung soll die Linie aus dem Museum befreit und zur Kunsthochschule hinausgeführt werden. Als Gedanke, Lichtstrahl, Duftspur, Wollfaden – so die Ideen. Oder einfach wieder abwickeln von den Wänden: Gut vier Kilometer Linie werden bis heute Abend gemalt worden sein, hat Grunenberg errechnet. Das reicht, Luftlinie, locker bis zur Kunsthochschule.JENS FISCHER
„Gegen den Strich“: 20. Oktober bis 17. Februar, Kunsthalle Bremen